Untergehen im Getriebe der Geschichte
Anton Tschechows „Kirschgarten“ hatte im Großen Haus Premiere
Von Frank Heindl
Die Geschichte zieht durch diesen Raum. Die Geschichte Russlands mit ihren extremen Umwälzungen, die Geschichte des entstehenden Kapitalismus, der gesellschaftlichen Verwerfungen, der Entstehung neuer sozialer Schichten. Mitten hinein in diese Mechanismen hat Anton Tschechow das Personal seiner Komödie „Der Kirschgarten“ geworfen, die am vergangenen Samstag auf der Bühne des Großen Hauses Premiere feierte. Und Tschechows Menschen ahnen, wie die Menschen zu allen Zeiten, nicht das Geringste davon, wie sie der Macht der Verhältnisse gehorchen, wie der Geist der Zeit sie zappeln und plappern, tanzen, lachen und weinen, lieben und verzagen, auftrumpfen und untergehen lässt.
Regisseur Markus Trabusch hat in früheren Inszenierungen, zum Beispiel in Claudels „hartem Brot“, auch mal mit dem Zaunpfahl gewinkt, hat mit einem kernigen Marx-Zitat die Botschaft seines Stücks plakatiert. Bei Tschechow ist ihm das weitaus subtiler gelungen – er hat einem großartigen Text vertraut, einem wunderbaren Ensemble und einer in ihren Mitteln zurückhaltenden Inszenierung, welche neue Mitglieder, Gäste und „alte Hasen“ gleich zu einer ebenso wunderbaren tschechowschen Familie zusammenschweißt.
Die Gutsbesitzerin Ljubow Andrekewka Ranewskaja ist es, um die sich das Geschehen in Tschechows Stück dreht. Ihre Entscheidungen werden erwartet, doch sie triff keine – das übernimmt der Hegelsche Weltgeist: Die Klasse der Gutsbesitzer ist dem Untergang geweiht, sie hat nichts mehr zu entscheiden. Man hätte mit guten Gründen die Ranewskaja auch als eine von Selbstzweifeln, Rückschlägen und Verzweiflung gequälte Trauernde auf die Bühne bringen können. Doch Ute Fiedler tut unter Trabuschs Regie das Gegenteil: Sie ist aufgeregt-überdreht, feiert, quasselt, schart mit Leidenschaft und buntgewandet (Kostüme: Susanne Hiller) ihren ebenso unbeschwerten, ebenso bunten Familienklan um sich und ignoriert das drohende Verhängnis in Grund und Boden. Weil das so sehr dem widerspricht, was man von Ute Fiedler gewohnt ist, die oft die tragische Komponente noch im triumphalsten Moment mitzuspielen wusste (und natürlich auch, weil Tschechow sein Stück so angelegt hat), – deshalb muss sie hier nur wenig tun, um hinter all der zur Schau gestellten Fröhlichkeit die permanente Drohung des Zusammenbruchs, die Angst stetig ahnen zu lassen.
Einer ganzen Welt droht der Untergang
Denn die Ranewskaja ist pleite, ihrem Gut, ihrem uralten, riesigen Kirschgarten droht die Versteigerung. Datschen sollen darin entstehen für die Klasse jener Emporkömmlinge wie dem Bauern und Kaufmann Lepochin. Sein Großvater, sogar sein Vater noch war Leibeigener auf dem Gut der Ranewskaja, nun aber wird das Gut an ihn fallen. Nicht nur einem Garten droht der Untergang, sondern einer ganzen Welt – doch davon will die versammelte Gesellschaft nichts wissen, und sie kann es nicht, weil sie in Bernhard Klebers Bühnenbild von hohen Wänden umgeben ist, die keinen Blick in die Wirklichkeit da draußen erlauben.
Im ersten Akt noch kommen die Dinge schwer ins Laufen: Viel Personal bringt Tschechow auf die Bühne, das in seinen Beziehungen zueinander vorgestellt und erklärt werden muss. Doch nach der Pause bringt das Geschehen die Verhältnisse schnell zum Tanzen. Trabusch hat dazu einen Tango gewählt, der in Endloschleifen das ganze 13-köpfige Personal der Inszenierung in seinen Bann schlägt, der es wie an unsichtbaren Fäden zu rhythmischen Bewegungen zwingt, Hampelmännern und -frauen gleich, die jede Freiheit schon längst verloren haben, während irgendwo draußen das Gut versteigert wird. Der hypnotische Untergangsrhythmus wird erst unterbrochen, als Lepochin mit der Nachricht eintrifft, ja, die Versteigerung habe stattgefunden, und ja, er, Lepochin habe das Gut gekauft.
90.000 hat er bezahlt – in welcher Währung, das interessiert nicht: Es ist viel, und nur er hat so viel. Er, der über klugen Büchern einschläft und sie ohnehin nicht versteht, er, der Bauer, der – als einziger in der Runde – ein selbstkritisches Bewusstsein seiner selbst hat: Dumm sei er wohl, sieht er ein – doch darauf kommt es in der neuen Zeit nicht mehr an. Die kündigt sich mit einem Musikwechsel an – aus dem Tango wird der drängende, stampfende, in tiefer Melancholie voranstrebende russische Tanz aus Tom Waits‘ „Black Rider“, und wer das Original kennt und das (fürs Theater herausgeschnittene) wilde Geschrei, das Waits zwischen den immer gleichen Strophen ausstößt, der weiß, wie treffend diese Musikauswahl ist: Zwischen Triumphgeheul und Schmerzensschrei ist bei Waits wie bei Lepuchin nicht mehr zu unterscheiden. Letzterer verliert nun zum einzigen Mal die Fassung, betrinkt sich, grölt, trumpft auf. Sein Geld rettet die verarmten Gutsbesitzer – und nimmt ihnen alles.
Eine Verbindung zwischen den Klassen ist nicht möglich
Toomas Täht stellt mit dem Lepochin einen Charakter dar, der ihm auf den Leib geschrieben scheint: Einen, der sich wenig bekümmert um Theorie und schöne Worte, einen, der nicht stillsitzen, ohne Arbeit nicht leben kann und doch in sich ruht, bescheiden auf sein Ziel hin wirkt. Einer, der das neue und doch wieder nur vorrevolutionäre Russland schaffen wird – und doch auch er ein Getriebener: Mit seinem Erfolg wird er jene verjagen, in deren Kreis er aufgewachsen ist, denen er viel zu verdanken hat. Die Revolution wird bald ihre Kinder fressen – dieser Wandel jedoch vernichtet seine Eltern. Und eine Verbindung zwischen den Klassen ist nicht möglich: Lepuchin liebt Warja (Miriam Wagner), die Pflegetochter der Ranewskaja, und auch sie liebt ihn – doch der Bauer in Lepochin kriegt die wenigen notwendigen Worte nicht über die Lippen.
Hinein in diese Gemengelage hat Tschechow individuell ausgearbeitete „Typen“ gestellt, die, jeder für sich, einen Teil nicht nur der russischen Misere seiner Zeit, sondern auch der untergehenden Gesellschaften des monarchischen Zeitalters repräsentieren: Tjark Bernau etwa gibt den Studenten, der in der Erkenntnis weit gekommen ist, sogar dahin zu wissen, dass nur die Arbeit das Land retten kann – er selbst wird gleichwohl über den Status des Studenten nie hinausgelangen. Oder den Romantiker Gajew, der mit bewegten Worten einem hundertjährigen Schrank huldigt – so sehr aus der Zeit gefallen, dass er nur Hohn erntet für seine sinnlose, rückwärtsgewandte Geschwätzigkeit. Oder den amoralisch-materialistischen Diener Jascha (Tobias Roth), der dreist und Zigarren paffend schon vor deren Abreise den Champagner der (ehemaligen) Herrschaft säuft.
Der Einzelne geht unter
Am Schluss sind sie alle weg – und das heißt in diesem Stück: aus der Geschichte verschwunden. Zurück bleibt nur der alte, vom allzu langen Leben geplagte Firs, hinreißend gebückt, mal senil, mal altersklug von Anton Koelbl gespielt. Er kehrt, ohne Blick für ihre Schönheit, die Massen von Kirschblüten zusammen, die wie ein dichter Schneefall unentwegt auf die Gesellschaft niedergehen. An ihm ist die Geschichte vorübergezogen – er hat nichts davon bemerkt. Die anderen haben ihre Freiheit gefeiert, als die Leibeigenschaft abgeschafft wurde. Er nicht – hat sich etwa jemals etwas verändert für ihn? Das Leben, brabbelt er, sei vergangen, „als ob ich überhaupt nicht gelebt hätte.“ Das war Tschechows visionäre Erkenntnis: Dass der Einzelne im Getriebe untergeht, untergehen muss, hinweggefegt von den Mächten der Geschichte. Markus Trabusch hat in seiner Inszenierung dankenswerter Weise darauf vertraut, dass die aktuellen Bezüge dieses Stoffes so sehr auf der Hand liegen, dass es für seine Deutung keines Zaunpfahls, nicht mal einer Hinweises bedarf. – Viel Applaus für eine nur kurzzeitig zähe, dann fesselnde Inszenierung und ein Ensemble in bemerkenswerter Hochform.