Unglück darf keine Spuren hinterlassen
Uraufführung im Hoffmannkeller: „Die schärfsten Gerichte …“
Von Frank Heindl
Grauenhaft, diese Frau! Was in der an Kälte, Rücksichtslosigkeit, Durchsetzungswillen steckt, das reicht, um mehrere Familien zugrunde zu richten. Und in der Tat, sie dehnt ihr Vernichtungspotential aus bis in die Familie der Tochter, zerstört sogar das Leben der Enkelin. Rosalinda hat kein Mitleid verdient. Oder haben wir etwas übersehen?
Alina Bronsky hat mit „Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche“ einen Roman geschrieben, der den Leser sehr lange im Ungewissen lässt, ob ihre Schilderung dieser Rosalinda nur grob klischeehaft ist oder doch eine hintergründige Tiefe hat. Der Stoff wurde in Augsburg erstmals fürs Theater bearbeitet und Pascal Wieandts Uraufführung im Hoffmannkeller folgt diesem Erzählprinzip ohne Abstriche. Ute Fiedler spielt die Russin tatarischer Abstammung mit einer bestürzend kühlen Grausamkeit, die den Zuschauer frösteln lässt, bewältigt dabei ohne Konzentrations- oder Präsenzlücken eine gewaltige Textmenge und lässt die gewaltige Kraft spüren, die in dieser Frau gebündelt ist und sich an der Gestaltung und Verunstaltung des Lebens der anderen austobt. Wenn die Tochter weint, interessiert diese Mutter zunächst nicht die Ursache, sondern die Tatsache, wie sie dabei wirkt. Erziehung bedeutet, zu vermitteln, wie man weint, ohne dabei hässlich zu werden – das Unglück darf keine Spuren hinterlassen, unerwünschte Schwangerschaften werden weggemacht. Und Kritik an solch rabiatem Verhalten wird selbstbewusst hinweggefegt: „Vor mir muss niemand Angst haben, ich will doch nur das Beste!“
Das sind so Sätze, die dem Romanleser als allzu simpel aufstoßen, und sie wirken im Theater nicht anders. Doch solche Momente gehen im Hoffmannkeller schnell vorüber, denn auch Rosalindas Gegenpart wird von einer bemerkenswerten Schauspielerin dargestellt: Kerstin König gibt die gequälte Tochter Sulfia, dieses wimmernde Etwas, zu dem sie von der Mutter und dem Schicksal herabgewürdigt wird, ebenso authentisch wie sie die verliebte junge Frau spielt, die nach der Flucht von zuhause doch noch einen netten Mann findet. Und sie spielt auch Sulfias Tochter Aminat, und zwar vom lispelnden Kleinkind über das vom pädophilen Stiefvater bedrängte Mädchen bis zum Alter der aufsässigen Göre mit großer Tiefe und Ausdrucksvielfalt: Kerstin König kann schluchzen, lachen, leiden, lieben und die Zunge rausstrecken wie ein Baby, wie ein Kind, wie ein Teenager, ohne dass das jemals künstlich oder aufgesetzt wirkt. Georg Trakis, der oft mit seiner Präsenz die ganze Bühne des Großen Hauses einzunehmen weiß, bleibt an diesem Abend klein neben den Frauen – Ursache sind aber nicht die beiden Schauspielerinnen, sondern abermals die Romanvorlage: Bei Alina Bronsky sind die Männer Jammerlappen, Versager, Dulder.
Die Männer sind, Jammerlappen, Versager, Dulder
Ihre eigene Tochter findet Rosalinda hässlich und dumm, und Pascal Wieandt lässt in deren Kopf und im Hoffmannkeller immer wieder die verächtlichen Boshaftigkeiten Rosalindas widerhallen. Doch ihre Enkelin Aminat scheint Rosalinda wirklich zu lieben – sie kämpft um sie wie um einen lebenswichtigen Besitz, sie bringt Opfer für sie, und erstmals erhält das Bild von der kaltherzigen Frau Tiefe. In rascher Folge werden auf der Bühne bauklotzförmige Quader auf-, neben-, über- und ineinander gestapelt – das Prinzip Matroschka: in jeder Kiste steckt noch eine, und dann noch eine und noch eine. So anpassungsfähig ist auch Rosalinda: In den 80er-Jahren, also in der Auflösungsphase der Sowjetunion, sichert sie im Wortsinne das Überleben der Familie, indem sie immer etwas zu essen auftreibt. Hier zeigt sich erstmals, dass diese Mutter natürlich auch Opfer ist, dass es die Verhältnisse sind, die Tyrannen wie Rosalinda gebären, die neue Rosalindas aus der Matroschka schlüpfen lassen. Später verschafft sie Tochter und Enkelin die Möglichkeit zur Flucht nach Deutschland, wird dort mit unvermindertem Pflichteifer und Karrierestreben Putzfrau und sichert auch hier den Lebensunterhalt „ihrer“ Familie. Vorher aber hat sie die zweite Ehe der Tochter zerstört, deren Ausreise nach Israel mit einem Selbstmordversuch verhindert. Und Opfer verlangt sie weiterhin auch allen anderen Beteiligten ab: Den pädophilen deutschen Ehemann angelt sie für Sulfia, indem sie ihm hübsche Fotos der Enkelin schickt. Was geschieht, als Sulfia unerwartet stirbt und Stiefvater und Enkelin allein zuhause bleiben, interessiert sie nur anfangs, aber bald gar nicht mehr…
Am Ende ist auch Rosalinda gebrochen
Und irgendwann ist dann doch Rosalindas Durchhaltevermögen gebrochen, ist nicht mehr zu unterscheiden, ob ihre Hoffnungen noch realistisch oder schon wahnhaft sind, ob die Fernsehbilder der von zuhause geflohenen Enkelin als Superstar-Sängerin Illusion oder Wahrheit sind. In beiden Fällen wäre das Ende tragisch, denn was Fernsehen und Zeitung über dieses Mädchen nun berichten, ist eine weitere Form von Ausbeutung und Vergewaltigung. Omas Erziehung hat sie dafür bereit gemacht. Wie die Geschichte für Rosalinda endet, hatte die Inszenierung schon ganz zu Anfang vorweggenommen: Zu arbeiten scheint ihr ein zwanghaftes Bedürfnis, sie putzt eine vom Inhaber aufgegebene Restaurantküche und schickt nebenbei einen Dank an Gott, „aus Höflichkeit, damit er sich nicht ganz unnütz vorkam.“ Sich nützlich zu machen, das ist Rosalindas Lebensprinzip, dafür geht sie nahezu über Leichen. Wer ihr darin nicht folgt, den walzt wie ein Panzer nieder, mit einer maschinenhaften Hilfe, deren Erbarmungslosigkeit nicht mal vor ihr selbst halt macht. Wenn das Unglück keine Spuren hinterlassen soll, muss man es ignorieren.
Langer Applaus für drei begeisternde Schauspieler und eine sehr gelungene Uraufführung.
——– Foto: Nik Schölzel