Ungelöste Widersprüche und wunderbare Musik
Verdis „La Traviata“ am Stadttheater
Von Frank Heindl
Schon gleich zu Anfang nahm es sich wieder einer heraus, den Champagner direkt aus der Flasche zu trinken. Weitergehende Befürchtungen aber waren überflüssig – „La Traviata“ kam am Samstag in halb-modernem Gewand daher, ohne anzuecken. Viele Bravos zwischendurch und lang anhaltender Applaus am Schluss schienen auch einer Erleichterung des Premierenpublikums darüber Ausdruck zu geben, dass nach der umstrittenen „Fledermaus“ nun eine von Schauspieldirektor Markus Trabusch inszenierte Verdi-Oper traditionelle Erwartungshaltungen befriedigte.
Stringent kann man Trabuschs Interpretation allerdings nicht nennen. Der führt die Lebedame Violetta Valéry (Sophia Brommer) als im i-Pod blätternden Popstar vor Großbildleinwand ein, lässt sie lasziv Karaoke ins Mikrophon singen und später glaubhaft innere Zweifel vorbringen an dem ganz anderen Lebensentwurf, den Alfredo Germont (Ji-Woon Kim) ihr mit seiner bedingungslosen Liebe anbietet. Violetta ist schwer krank – soll sie das ausschweifende Leben bis zum Ende genießen oder eine zurückgezogene Existenz in stiller Zweisamkeit wagen?
Schon im zweiten Akt zeigen sich Widersprüche, die Verdis Plot verursacht und die die Augsburger Inszenierung nicht auslotet: Violettas Entscheidung für Alfredo führt in einen fernöstlich designten, rundum biederen Haushalt, wo der Mann stillvergnügt im Wok kocht und die Geliebte meditativer Frauentätigkeit nachgeht – und betont damit noch zusätzlich die radikale Veränderung in ihrem Leben, ohne erklären zu können, wohin Violettas Zweifel entschwunden sind, wie so eine abrupte Kehrtwendung funktionieren kann.
Nicht durchdacht scheint auch die Rolle von Alfredos Vater (Dong-Hwan Lee), der nun das junge Glück zerstört, weil Alfredos Liason mit der ehemaligen Kurtisane nicht in seines und der Öffentlichkeit Weltbild passt. Tyrannisch und brutal tritt dieser Vater auf, erpresst Violetta, obwohl er doch vorgibt, von ihrem sympathisch-ehrlichen Wesen angetan zu sein, schlägt gar den Sohn. Später wird auch er eine Kehrtwendung vollziehen und bereuen – doch erst, als es zu spät ist und Violetta im Sterben liegt. Böse ist ihm darob niemand, im Gegenteil wird sein Trost als hilfreich und herzensgut empfunden. Diese Widersprüche in der Handlung könnte ein in sich widersprüchlicher, von Zweifeln geplagter Vater ausgleichen, auch ein verletzter Sohn, eine misstrauische Schwiegertochter wären am Platz – doch mit solch innerem Hader müssen sich Trabuschs Schauspieler nicht herumschlagen.
Balletthaft, schwerelos, schön: Violettas Tod ist gegenwärtig
Ein grandiose Idee dagegen: Die ständige Bedrohung der Violetta durch das nahende Ende materialisiert die Regie in einem blassen Todesengel (Ulrich Rechenbach), der, schon von der ersten Szene an präsent, sein Opfer beständig auf enger werdenden Bahnen umkreist. Bewegend, wie die Sterbende mitunter flüchtig-schüchtern, aber gleichzeitig fast sehnsüchtig ihre Hand nach diesem schönen Erlöser ausstreckt, der so ballethaft-schwerelos lockt; nachvollziehbar, wie sie, als das Ende wirklich gekommen ist, als Schmerzen und Abschiedsleid überhand nehmen, sich ihm in beinahe erotischer Lust hingibt. Da ist sie dann, die stets für Publikumsschluchzer und -tränen gute Abschiedsszene, der Gipfel der weiblichen Selbstaufgabe, unterstrichen von wunderbarster Musik, deutlich jenseits der Klischee- und Kitschgrenze – das hatte die modernisierte „Fledermaus“ nicht bieten können. Viele Bravos und stürmischer Beifall vor allem für Sophia Brommer und ihre Sangeskollegen sowie Dirigentin Carolin Nordmeyer, lang anhaltender Schlussapplaus für das ganze Ensemble.