Tatort Gersthofen
In der Stadt Gersthofen wird systematisch Kunst zerstört. Das sind ernstzunehmende Vorgänge, die von der örtlichen Kunst- und Politikszene bisher als solche nicht verstanden wurden. Fünf von 22 Figuren der Ausstellung „Alltagsmenschen“ der Künstlerin Christel Lechner sind zu Versicherungsfällen geworden. Drei der fünf Figuren mussten von der Ausstellung entfernt werden. Zwei wurden wieder zusammen geklebt. Die Objekte der Zerstörung sowie die Vorgehensweise der Zerstörer ermöglichen die Erstellung eines Täterprofils. Daraus wiederum lässt sich ableiten, welche Figur als nächstes auf der Liste der Zerstörer steht, die in Wirklichkeit keine Zerstörer sind, sondern Künstler.
DAZ-Herausgeber Siegfried Zagler über die Kunst der Zerstörung. Eine Polemik.
I
Die Bürger der Stadt Augsburg würden sich gehörig darüber aufregen, dass Peter Grab und Thomas Lis die Parteien und Ausschussgemeinschaften wechseln wie die Hemden, so kürzlich Bernd Kränzle (CSU) im Augsburger Stadtrat. Das sei ungehörig und müsse in Zukunft unterbunden werden, fügte OB Kurt Gribl hinzu. Dies sei ein leicht durchschaubares Ablenkungsmanöver entgegnete Stadtrat Otto Hutter (Linke). Was die Menschen beschäftigt, sei die Asylproblematik und die Theatersanierung und die damit zusammenhängende Finanzierung. Dafür hätte die Stadtregierung keine Konzepte, deshalb dieses Ablenkungsmanöver, so der provokative Einwurf des kunstaffinen Stadtrats Hutter, der in seiner Replik vergaß, dass in diesem Sommer im Prinzip alles von einem wahrhaft großartigen Mysterium ablenkt, das sich in einem Augsburger Vorort abspielt: In Gersthofen wird systematisch Kunst im öffentlichen Raum zerstört!
II
Aus diesem Sachverhalt heraus sind zwei Dinge festzuhalten. Erstens soll festgestellt werden, dass das Skulpturen-Konzept der Künstlerin Christel Lechner Kunst ist. Zweitens besteht kein Zweifel daran, dass die Täterin, der Täter oder die Täter in dieses Kunstkonzept eingreifen und somit ein Teil des Konzeptes darstellen, also selbst Künstler sind.
III
Diese Sätze klingen vermutlich sogar für DAZ-Leser wie eine Polemik zum Zweck der Provokation und dürfen auch als solche verstanden werden. – Wichtiger ist jedoch, dass das niederschwellige Projekt durch Pöbeleien des Bürgermeisters Michael Wörle erst Fahrt aufnahm und somit durchaus erhöht und befördert wurde. Das Ganze ist im Grunde nur deshalb der Rede wert, weil es sich um ein grauenvolles Konzept handelt, das in seiner radikalen Banalität das Böse in sich trägt und somit die Zerstörung der Figuren herausfordert. Gersthofens Bürgermeister Michael Wörle, der es mit seinen Beleidigungen und Beschimpfungen in Richtung Zerstörer immerhin geschafft hat, bundesweite Medienaufmerksamkeit zu erzeugen, wurde aufgrund seiner Tiraden ebenfalls zu einem Akteur eines Performance-Projekts, das die Stadt Gersthofen zu einem „Ort sterbender Alltagsmenschen“ kreiert hat. Spannenders hat es in Gersthofen noch nie gegeben.
IV
Über Gersthofen lässt sich auf den ersten Blick nichts Schlechtes sagen. Dort lassen sich in den zahlreichen Fachmärkten ausgezeichnete Akkuschrauber erwerben. In der Stadthalle wurde vor wenigen Jahren ein Brechtfestival eröffnet. Der Ortskern ist eine Kreuzung, in dessen Nähe sich gehobene Eisdielen befinden. Menschengroße Eiswaffeln mit bunten Speiseeiskugeln weisen darauf hin. Diese öffentlichen Anzeiger einer klassischen Vorort-Gastronomie waren bis zur Ausstellung „Alltagsmenschen“ das künstlerisches Merkmal der Stadt Gersthofen. Diese Eiswaffeln bestimmten das Stadtbild einer hoch funktionalen Vorstadt, die mit Jürgen Schantin einen Bürgermeister hatte, der sich kurz vor der Kommunalwahl einer rufschädigenden Kampagne ausgesetzt sah und vermutlich deshalb abgewählt wurde. Er wurde durch Michael Wörle ersetzt, der von den Freien Wählern und der SPD unterstützt wurde. Gersthofen ist eine reiche Stadt, die öffentlichen Parks sind sehr gepflegt und im Gegensatz zur Stadt Augsburg ist Gersthofen finanziell in der Lage, alle Brunnen mit Wasser zu versorgen. Und nun das: Michael Wörle bekennt sich zur Normierung des öffentlichen Lebens, indem er der Norm eine Würde suggeriert, indem er, wohl wie die meisten Bürger Gersthofens, davon ausgeht, dass diese Figuren die Alltagswelt der Stadt Gersthofen auf gemütliche und würdevolle Weise abbilden.
V
Ohne die Ausfälle des Bürgermeisters hätte es keinen zweiten Blick gegeben. Auf den zweiten Blick ist Gersthofen das deutsche Abbild von David Lynchs Lumberton, wo der Collegestudenten Jeffrey Beaumont in dem Lynch-Film „Blue Velvet“ ein abgeschnittenes Menschenohr im tadellos gepflegten Vorgarten seiner Eltern findet. Erzählt wird die Geschichte dieses Studenten, der von Lynch unter die Oberfläche einer idyllischen amerikanischen Kleinstadt geführt und dort mit Gewalt, Korruption und sadomasochistischen Sexualpraktiken konfrontiert wird, mit Bildern, die kaum auszuhalten sind und die Cinematographie auf eine neue Ebene hoben. Mit diesem surrealistischen Thriller schoss sich Lynch über Nacht in die Riege der Weltregisseure, was wohl damit zu tun hatte, dass er eine neue Ästhetik der Gewalt kreierte. Eine Gewalt, die in der Tiefe der menschlichen Psyche verankerten ist und sich in den Gewaltorgien der Märchenwelt reflektiert. Märchen spielen sich nicht in Metropolen, sondern in kleinen Städten und Dörfern ab.
VI
Märchenhaft stereotyp sind auch die Skulpturen von Christel Lechner. Wie bei Lynchs Filmanfängen verkörpern sie Gestalten, die das Gewöhnliche und das Einheitliche darstellen. Diese Figuren sind faltenfrei und ohne einen Hauch Individualität, sie stammen aus einer Keramik-Retorte, deren Betreiberin offenbar weiß, dass es keinen größeren Schmerz als die Gewissheit der Norm gibt. Hinter diesem Konzept der Reduktion der menschlichen Lebensformen ist eine Sehnsucht nach einer verschwunden Welt erkennbar. Eine Welt, die in Deutschland unter Adenauer und Kiesinger ihre Blütezeit hatte. Eine deutsche Sonntagswelt ohne Migranten, ohne Subkultur und ohne jede ironische Brechung des Uniformen. Nichts in dieser auch farblich genormten Figurenwelt verweist auf die Lebenswirklichkeiten der Moderne. Die im öffentlichen Raum platzierten Figuren der Künstlerin Christel Lechner verändern den öffentlichen Raum zweckfrei. Diese Figuren verändern aber nicht nur den Raum, sondern auch die Wahrnehmung des Raums, der – mit der ästhetischen Provokation einer dilettantischen Kunst aufgeladen – sich nach einer weiteren Korrektur zu krümmen scheint. Die Figuren der Christel Lechner lenken Flaneure durch das Städtchen Gersthofen und erzeugen in urbaner Gegend die trügerische Geborgenheit eines Vorgartens, weshalb die Assoziation zu einem anderen universalen Kunstprojekt, nämlich zum Gartenzwerg entsteht. Es besteht also nicht der geringste Anlass dafür, diesen Figuren im öffentlichen Raum den Kunstanspruch abzusprechen, wie das vor Jahren einige Bürger in Witten versuchten, denen die Einfältigkeit der Betonfiguren offenbar dergestalt aufs Gemüt schlug, dass sie einen akademischen Diskurs ins Rollen brachten, um diesen Figuren das Etikett der Nichtkunst anzuhängen. Lechner hat ihr Atelier bei Witten. Vermutlich war aus diesem Grund ein angestrengter akademischer Feldzug gegen die restaurative Aura der Figuren eine wirkungsvolle Waffe. Lechners Figuren rekonstruieren in ihrer puppenhaften Verniedlichung eine heile Welt, eine Welt ohne Globalisierung, Flüchtlingsbewegung und ohne Migration. Lechners Figuren erinnern an die überwundene kulturelle Einfältigkeit der siebziger und achtziger Jahre, als in der Provinz die Welt noch in Ordnung war. Und sie stellen allein durch die Penetranz ihrer ethnischen Singularität Kunsträume her, die Migrationsgesellschaften und kulturelle Vielfalt auslöschen.
VII
In der „Metropolenregion Augsburg“ (Markus Söder) – und dazu gehört Gersthofen – geht man mit dem Unerträglichen des Uniformen im urbanen Raum feindselig um: Man verändert es auf unerlaubte Weise, indem man ihm zum Beispiel den Kopf abschlägt. – Es ist nämlich anzunehmen, dass hinter den Zerstörungsaktionen keine Zufallsattacken von alkoholisierten Jugendlichen auszumachen sind – oder das übliche Vandalismus-Programm aus Langweile oder Überschwang anzuführen ist, sondern ein durchdachter Widerstand gegen den Wahnsinn einer irrational geformten Labormenschen-Konzeption. Im juristischen Sinn mag es sich bei der Zerstörungsorgie um nichts anderes als um zufällig motivierte „Sachbeschädigung“ handeln. Es ist nicht auszuschließen, dass das zutrifft. Interessanter ist jedenfalls die Annahme, dass in einem höheren Sinn nicht die Zerstörer die Schurken sind, sondern Opfer und die eigentlichen Täter, die Figuren selbst sind, die in Kumpanei mit ihren Machern um ihre Zerstörung betteln.
VIII
Dass die Stadt Gersthofen auf die Sachbeschädiger, die man im besten Sinn als „ illegale Konzeptkünstler“ betrachten sollte, 2.000 Euro Kopfgeld ausgesetzt hat, belegt, dass die Ausstellungsmacher nicht wissen, was sie tun. Anders gesagt: Der Sachverhalt, dass die Politik zusammen mit der Künstlerin in Gersthofen von Tätergruppen ausgeht, die üblicherweise Parkbänke oder Bushäuschen beschädigen, lässt tief blicken. Dass die Künstlerin achselzuckend bestätigt, dass ihre Figuren nicht selten zu Beginn von Ausstellungen zerstört werden, lässt annehmen, dass die Meisterin der dilettantischen Bildhauerei nicht weiß, was sie tut. Dass sich möglicherweise illegale Konzept- und Performance-Künstler von Gersthofens Bürgermeister als „Vollidioten“,„ Asoziale“ und „Vollpfosten“ titulieren lassen mussten, zeigt immerhin, dass Michael Wörle als Bürgermeister von Quasi-Lumberton verstanden hat, wie man sich selbst und eine nachhaltige Zerstörungsperformance ins Licht des öffentlichen Interesses setzt. Mit dieser Aktion hat sich Wörle als profunder Kenner des Guerilla-Marketings geoutet.
IX
Für die Kopfgeldjäger unter den DAZ-Lesern soll gesagt sein, dass eine nicht besonders verborgene Motiv-Struktur, die sich anhand der Reihenfolge der Attentate ergibt, und eine ziemlich oberflächliche Tatortuntersuchung zu den Erkenntnissen der hier angestellten „Täterprofile“ führen, weshalb eine Prognose, welche Figur als nächste ihren Kopf verliert, mit der Zuverlässigkeit einer forensischen Analyse herzuleiten ist.
Zuerst musste ein „Bankmensch“ daran glauben, der vor der Kreissparkasse der Kreuzung, die in Gersthofen als Stadtmitte gilt, in die Luft gaffte. Er wurde nachhaltig zerstört und seine Einzelteile mussten von seinen Kollegen entsorgt werden. Danach musste eine von drei Einkaufsfrauen, die tratschend beieinander standen, daran glauben. Auch aus dieser ursprünglichen Dreiergruppe ist nur ein Pärchen übrig geblieben. Als dritte Figur wurde eine von vier Tänzern vor dem Gersthofener Kulturamt in der Mitte auseinander geschlagen. Und schließlich wurde wenig später einer Tänzerin dieser Gruppe eine Hand abgeschlagen. Am Ende wurde „der Denker“ enthauptet. „Der Denker“ ist die einzige Figur, die im Besitz der Stadt Gersthofen ist. Fünf Jahre wurde er von den Bürgern Gersthofens „fürsorglich und liebevoll“ behandelt. Im Winter bekam er einen Schal umgelegt und in der Hitze des Sommers wurde er mit einer Mütze vor der Sonne geschützt. Hinter dieser Folge und der handwerklichen Differenziertheit der Zerstörungsattacken lässt sich ein Täterprofil erkennen, das an dieser Stelle nicht näher beschrieben werden soll. Mit hoher Wahrscheinlichkeit lässt sich aber prognostizieren, dass “der Gärtner” als nächste Figur enthauptet wird. Bänker, Tratschtanten, Tanzgruppen sind Vorboten der Hölle, durch deren Tür man nur einen Blick werfen kann, wenn man Denker und Gärtner ausschaltet.
Ja, der Gärtner wird der nächste sein. Alles andere ergäbe keinen Sinn.