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Dienstag, 23.07.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

Tango am Rand des Abgrunds

Molières „Tartuffe“ im tim: der Seelencoach als Verführer

Von Frank Heindl

Ein tiefer, etwas bedrohlicher Basston vom Akkordeon eröffnet den Abend – und ab dann wird Tango getanzt. So könnte man, übertrieben kurz, den Molièreschen „Tartuffe“ zusammenfassen, wie ihn das Stadttheater unter Regie von Sigrid Herzog auf die (nicht vorhandene) Bühne des Textilmuseums bringt. Um es vorweg zu nehmen: Ein Abend der leichten Muse zwar, aber ein Abend des großen Vergnügens, des perfekten Timings und eines glänzenden Ensembles.

Der Sohn (Alexander Darkow) ist ein Kraftprotz, intelligent ist nur die Zofe (Lucy Wirth) – im Haus von Orgon wird mit den Verhältnissen Tango getanzt.

Der Sohn (Alexander Darkow) ist ein Kraftprotz, intelligent ist nur die Zofe (Lucy Wirth) – im Haus von Orgon wird mit den Verhältnissen Tango getanzt.


Im Haus des wohlhabenden Orgon weiß man zu leben. Seine Frau ist schön und verwegen, die Kinder sind nicht die hellsten und in diesem Punkt eher dem Vater nach geraten, delegieren die Intelligenz ans Personal und kümmern sich stattdessen um Feste und Möblierung. Bei Sigrid Herzogs Inszenierung platzt da Publikum mitten hinein die temporeiche Umgestaltung des Wohnzimmers: Der Vater ist außer Haus, man nutzt die Gunst der Stunde, um zweifelhafte Kunst – aber zweifellos à la mode – und ein enormes Sitzmöbel anzuschaffen, das zwar nicht bequem ist – aber zweifellos der „dernière cri“. In diesem fröhlichen Hallo aber stört alsbald die ältere Generation – zunächst Frau Pernelle, Mutter des Hausherrn und in ihren Gefühlen verletzt durch das Ungestüm der Jugend.

Schon die Eingangsszene – wie in Minutenschnelle und zum Tangorhythmus des Akkordeons die alten Möbel verschwinden, die neuen aufgestellt werden und schließlich beim ersten Wort der alten Dame alles in betroffenes Schweigen verfällt – zeigt, worin die große Stärke dieses Augsburger Molière besteht: Das Timing stimmt perfekt und die Inszenierung hat bis ins Detail eine tänzerische Leichtigkeit, die die gesamte Handlung in jedem Moment gezielt der Lächerlichkeit preisgibt. Schön, wie Eva Maria Keller, die Grand Dame des Augsburger Ensembles, nur ihre Stimme zu erheben braucht: Schon sind die Kinder still – und das Publikum kringelt sich.

Der Hausherr ist den Verhältnissen nicht gewachsen

Frau Pernelle also ist über die besten Jahre hinaus, und wie das so ist: In diesem Alter lässt die Lebenslust nach, dafür wächst der moralische Anspruch. Man achte sie in diesem Hause nicht, lamentiert sie, „nichts wird hier respektiert“ –und so haben die Alten ja seit eh und je empfunden. Die Pernelle und ihr Sohn haben allerdings hat einen Helfer –das ist Tartuffe, jener priesterlich gewandete Frömmler, der sich in den Haushalt eingeschlichen hat und – man erfährt es, noch ehe er auftaucht – sich strengstens für Sitte und Moral engagiert. Schon hat er sich den Hausherrn, den etwas tumben Orgon (Martin Herrmann), so sehr um die Finger gewickelt, dass dieser ihn mit seiner anderweitig verliebten Tochter (Sarah Bonitz) verheiraten will. Denn auch Orgon ist den Verhältnissen nicht mehr gewachsen und gibt seine Verantwortung nur zu gerne ab. Seine Frau ist zu jung und zu schön für ihn, seine Macht über die Kinder beruht auf gesellschaftlicher Konvention, nicht auf väterlicher Autorität.

Und das Dienstmädchen kann sich ihm gegenüber jede Frechheit herausnehmen. Denn neben dem Generationenkonflikt hat Molière geschickt einen Klassenkonflikt eingebaut, den Sigrid Herzogs Regie ebenso geschickt betont: Während seine Tochter ein willensloses Dummchen, der Sohn (Alexander Darkow) ein naiver Kraftprotz ist, die herrschende Klasse sich also ihrer eigenen Probleme nicht gewachsen zeigt, ist die Zofe Dorine zunächst die einzige, die nicht nur über den Willen, sondern auch über die Intelligenz zum Widerstand und dessen Organisation verfügt – und dabei gleichzeitig ihre Herrschaft verlacht. Lucy Wirth gibt die Dorine wunderbar spritzig-witzig, ein bisschen prollig, stattet sie mit ein wenig Dienstmädchenerotik aus, löckt herzerfrischend frech wider die Verhältnisse. Und wenn sie grübelt und Pläne ausheckt, dann spielt das Akkordeon Tango, dann werden die Verhältnisse am Rande des Abgrunds wenigstens kurzzeitig zum Tanzen gebracht.

Wie der Wutbürger zum Plebs wird

Der Plan, Tartuffe doch noch bloßzustellen, in dem man dessen Werben um die Frau des Hausherrn offenbar macht, ist ein weiterer großer Spaß für alle Beteiligten inklusive Publikum. Sogar Elmire selbst (Judith Bohle) schwankt ein wenig zwischen Lust und Entsetzen, scheint ein paar Momente lang nicht abgeneigt, den Schabernack eine Spur zu weit zu treiben – zumal ihr Mann, unterm Sofa versteckt, sich der Realität verweigert: Er will und will nicht glauben, dass Tartuffe, der hoch verehrte Asket im hochgeschlossenen schwarzen Gewand (Marcus Calvin), ein Betrüger ist, schreitet selbst dann nicht ein, als dieser sich mit bedrohlich gerafften Unterhosen auf Elmire zu stürzen droht. Das ist der Moment, in dem die Inszenierung hart an den Rand der Klamotte gerät.

Elmire (Judith Bohle) ist schön, Tartuffe (Marcus Calvin) ein schmieriger Verführer – und Orgon (Martin Herrmann) mag\'s nicht glauben (Fotos: Nik Schölzel).

Elmire (Judith Bohle) ist schön, Tartuffe (Marcus Calvin) ein schmieriger Verführer – und Orgon (Martin Herrmann) mag\'s nicht glauben (Fotos: Nik Schölzel).


Doch mag das die Absicht der Regisseurin gewesen sein. Denn ihr Tartuffe ist nicht mehr ein Vertreter jenes katholischen Klerus, der sich bei der Uraufführung im Jahr 1664 – und zu Recht – derart verunglimpft sah, dass er ein Aufführungsverbot erwirkte. Es ist ja heute kaum mehr üblich, sein Vermögen der Kirche oder einem ihrer Vertreter zu vermachen. Doch auch wir haben jede Menge Gutmenschen zur Auswahl, denen wir auf den Leim gehen können – man muss sich gar nicht bis in die 70er-Jahre zurück an einen orangegewandeten Guru erinnern, dem seine Anhänger einen Rolls Royce nach dem anderen verehrten. Marcus Calvin spielt den Tartuffe als eines dieser alerten, nie um Antwort und verständnisvolle Geste verlegenen Mischwesen aus Manager, Berater, Seelencoach und Psychotherapeut: „Lass den Himmel durch dich gehen“, empfiehlt er Orgon, als dieser sich zu sehr erregt, und atmet ihm beruhigend vor. Sein Klient aber hat schon viel gelernt: „Ich bin irgendwie blockiert“, erklärt Orgon seine Verwirrung und vermacht ihm gleich noch Haus und Vermögen.

Deshalb ist es, als Tartuffes Blenderei offenbar und die erzwungene Hochzeit verhindert wird, trotzdem längst zu spät. Den rettenden König, den Molière in letzter Minute dem Orgon beistehen lässt, enthält Sigrid Herzog dem Publikum vor – sie deutet eine drastischere Lösung an, aus der aber auch nichts wirklich Gutes erwachsen kann. Der Tango ist unmerklich verklungen, die Wutbürger werden unvermutet zum Plebs und rächen sich am Verführer, der ihnen doch nur die eigene Dummheit vor Augen geführt hat. Viel herzhaftes Gelächter, langer Applaus, viele Bravos für Schauspieler und Regie.