Szenische Aktion, inszenierter Tumult
Luigi Nonos “Intolleranza 1960” – grandiose Premiere am Stadttheater
Von Frank Heindl
Politischer Kampf und Naturkatastrophen: Mathias Schulz als Emigrant und Sally du Randt als Gefährtin kämpfen sich durch die Opfer der Flut (Foto: A.T. Schaefer).
Diese Momente würde man gerne mehrmals erleben: Wie man durch dunkle Theatergänge geschleust wird, um an einem völlig unterwarteten Platz herauszukommen; wie die Musik um einen herum, die schwer enträtselbaren Chorgesänge, zunehmen, lauter werden; wie man eine Erschießungsszene von Goya “durchqueren” muss und plötzlich vor einem zum Leben erweckten Delacroix-Gemälde steht; und wie dann plötzlich – sofern man zu den 60 vom Zufall Ausgewählten gehört, die eine Weile direkt vorm Orchester warten dürfen – rings um einen herum der Chor zu singen beginnt und wenig später die Philharmoniker mit Luigi Nonos Musik und den Schreckensfanfaren der Blechbläser einsetzen: man würde das gerne mehrmals erleben!
Das ist viel Euphorie für den einleitenden Satz zur Besprechung eines Theaterstücks, das eine Oper zu nennen der Komponist eigens verboten hat: Um eine “azione scenica” handle es sich, eine szenische, gar tumulthafte Aktion, bestimmte Nono. Solch eine Kunstform sei nirgends definiert, erklärte tags darauf in einer Podiumsdiskussion der Nono-Experte Jürg Stenzl und fügte hinzu: “Oper übrigens auch nicht.” Sprich: Was Dramaturg, Bühnenbildner, Regisseur und Dirigent und der ganze Apparat eines Opernhauses aus dem Stück machen, bleibt ihnen so oder so weitgehend selbst überlassen. Trotzdem: Das, was der Augsburger “Apparat” aus Nonos Werk gemacht hat, ist anders und mehr geworden, als man es von einer Oper gewöhnlich zu erwarten wagt – und rechtfertigt so die Euphorie.
Orchester, Chor, Sänger und Publikum – alle auf der Bühne
Die erwähnte Direktheit, mit der das Publikum in die Szene hineingezogen wird, ist eine dieser Besonderheiten. Regisseur Ludger Engels und Bühnenbildner Ric Schachtebeck haben sich entschlossen, das Orchester nicht im Graben zu versenken und das Publikum nicht (nur) im Theaterraum zu platzieren – sie alle (alle!) sind im ersten Teil auf der Bühne versammelt, das Publikum sitzt fast direkt neben Chor, Orchester und Solisten. Mit dem Effekt, dass zunächst jegliche kritische Distanz verloren geht, dass der Zuschauer schutzlos dem Pathos von Nonos Libretto und dem radikalen Zugriff seiner Musik ausgesetzt ist – allerdings nicht widerstrebend, sondern eher mit erregter Gänsehaut.
Nonos “Intolleranza 1960” erzählt nicht die Geschichte von Individuen. Der Gastarbeiter, der in seine Heimat zurückwill, seine emotionalen Verstrickungen, politische Kämpfe, Gefangenschaft und Folter, in die er gerät, die Naturkatastrophe, die er erlebt – das alles sind Prototypen soziopolitischer Ereignisse und Entwicklungen, die nicht gebunden sind an Nonos Jahresangabe “1960”, sondern nur von dort aus deutlich machen, dass sich seit damals so viel nicht geändert hat. Nono hat an den Beginn des zweiten Teils eine Szene ohne Handlung und Musik gestellt, die die Augsburger Regie seiner Anweisung zufolge mit aktuellen, per Megaphon verlesenen Nachrichten füllt. Doch nicht einmal diese Aktualisierung wäre nötig gewesen, selbst Nono hätte seinem Werk noch mehr vertrauen dürfen: Es erklärt sich von selbst, und wer nicht erkennen wollte, wie zeitlos gültig und anhaltend aktuell die dargestellte Handlung ist, der müsste blind oder doch sehr realitätsfremd sein. Und der müsste zudem die Ohren verschließen vor Nonos Musik, die im ersten Teil geradezu überdeutlich das Pathos des Librettos dramatisch unterstreicht, manchmal verdoppelt.
So lernt man, Neue Musik zu verstehen
Was das Orchester hier an tonaler Abstraktion und rhythmischer Perfektion zu leisten hat, ist in Worten kaum nachvollziehbar – und übrigens auch nur sehr schwer beim Hören am CD-Spieler: Man muss es sehen, erleben, wie beispielsweise die Parts der Schlagwerke ineinander übergehen, wie beispielsweise die Bläser organisiertes Chaos und geballte Emotion in einem hochkonzentrierten Mit-, Nach- und Nebeneinander erzeugen. Dass man es auf dieser Bühne tatsächlich sehen kann, führt auch dazu, dass man bei dieser Inszenierung Neue Musik verstehen lernt, während man von ihr regelrecht hypnotisiert wird: Nonos Kunst er-greift, packt, fesselt im nahezu wörtlichen Sinn. Dazu trägt auch die Leistung des Opernchors bei, der die enormen Schwierigkeiten der Partitur hervorragend meistert – bis hin zur syllabischen Textzerlegung im Gedicht “An die Nachgeborenen”: Hier zerhackt Nono Brechts Worte in einzelne Silben, die wechselnd von verschiedenen Stimmlagen gesungen werden. Einen ebenso wesentlichen Anteil an der gelungenen Inszenierung hat Ric Schachtebecks Bühne. Er platziert das Publikum nicht nur nahe am Geschehen, sondern lässt es von dort auch nicht mehr weg: Schwarze Vorhänge begrenzen die Bühne, nach hinten schließt sich immer wieder eine hermetisch scheinende Schiebetür und erzeugt so den Eindruck eines Gefängnisses, in dem das Publikum zum Zusehen gezwungen wird. Und nicht einmal die Flucht in den Voyeurismus ist gestattet: Von den Folterszenen sehen wir nur das geschäftige Ärmel-Hochkrempeln der Agenten – dann senken sich die Vorhänge, bis der Chor in einen lauten und entsetzlichen Schrei ausbricht.
Ein Steg ragt in den Zuschauerraum
Vor allem aber im zweiten Teil gibt es musikalische Passagen, die trotz – und bei genauerem Hinhören sogar wegen ihrer Atonalität eine geradezu lyrische Feinheit und Durchsichtigkeit entfalten, die noch einmal Nonos tief menschliche Intention betonen. Der Emigrant (Mathias Schulz), seine Gefährtin (Sally du Randt), sogar die verlassene und von Enttäuschung und Hass regierte Frau (Kerstin Descher) und alle ihre Mitstreiter kämpfen im Wesentlichen nicht gegen etwas, sondern für bessere Zustände. Für diesen Kampf will Nono sein Publikum gewinnen – weshalb im zweiten Teil die Bühne als eine Art Steg weit in den Zuschauerraum hineinragt.
Luigi Nono war Kommunist – die notwendige radikale Veränderung der Welt konnte er sich nur als Folge einer Revolution vorstellen. Das mag mit Grund dafür gewesen sein, dass bei der Uraufführung von “Intolleranza 1960” in Venedig Tumulte ausbrachen, Neofaschisten Stinkbomben warfen. Klaus Zehelein, ehemals Intendant in Stuttgart, der das Stück vor vielen Jahr ebenfalls auf die Bühne gebracht hat, betonte bei der samstäglichen Podiumsdiskussion, wie sich seither die Zeiten geändert haben: Das Publikum sei heute “auf kontroverses Material vorbereitet”, es bringe Erfahrung mit modernen theatralen Mitteln mit, und das helfe ihm, die Fremdheit der Musik zu akzeptieren – “Aufruhr” sei heutzutage nicht mehr zu erwarten. Er wertete die Augsburger Aufführung unter der Intendanz seiner ehemaligen Chefdramaturgin Juliane Votteler als “Referenzinszenierung”, sprich: als beispielgebend für alle weiteren Versuche mit “Intolleranza 1960”.
Sogar der Tumult war inszeniert
Zu fragen bliebe, ob das nun nicht ein bisschen zu wenig Tumult war. Sicher ist die gestiegene Toleranz des Publikums ein Erfolg der demokratischen Zivilgesellschaften der Nachkriegszeit. Sicher müht sich das umfangreiche Rahmenprogramm zu “Intolleranza 1960”, Nonos Themen dem Publikum noch näher zu bringen. Nono selbst allerdings hätte die Reaktion des Theaterpublikums, die eigentlich das Ausbleiben einer Reaktion ist, womöglich nicht gut geheißen. “Hier muss man bleiben, hier alles ändern” ist die Lehre seines Protagonisten aus der Geschichte, und dann defilieren die Reichen und Schönen mit einem zynischen “Oh” sekttrinkend an den Opfern einer Flutkatastrophe vorbei. Sehr ähnlich beendete auch das Premierenpublikum den Abend: mit Sekt im Foyer. Dort saßen Asylbewerber aus dem Grandhotel in einer Art Käfig und luden Theaterbesucher ein, mit ihnen zu essen. Die Insassen dieses Gefängnisses kamen schon aufgrund der Sprachschwierigkeiten kaum mit den Besuchern ins Gespräch – und wenn sie ein wenig Tumult gemacht hätten, wäre auch das wohl nur als theatrale Installation verstanden worden, die beim Sekttrinken nicht weiter stört. So wie der Tumult vor dem Theater, in dem Demonstranten so täuschend echt aneinander gerieten, dass am Abend der Hauptprobe die Polizei anrückte. Die Ordnungshüter mussten sich eines Besseren belehren lassen: Es lag eine offizielle Genehmigung vor, der Tumult war inszeniert.
Ausgebliebener und inszenierter Tumult, eine aufregende und mitreißende “Szenische Aktion”, die man gerne mehrmals erleben würde – zu Recht begeisterter Applaus und lang anhaltende Bravos für alle Beteiligten.