DAZ - Unabhängige Internetzeitung für Politik und Kultur
Dienstag, 23.07.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

Synagogenmusik kehrt nach Augsburg zurück

Unibibliothek beherbergt nun die wohl größte Sammlung Europas

Von Frank Heindl

„Es war einmal eine kleine Wohnung im 7. Bezirk von Budapest“ – so beginnt Robert Singer den Bericht darüber, wie er zu seiner bedeutenden Sammlung jüdischer Synagogenmusik des 20. Jahrhunderts kam. Am Montag hat er die wertvollen und umfangreichen Bestände – etwa 20.000 Seiten an Notendrucken, 2.000 Seiten handschriftlicher Notenaufzeichnungen und 500 Tonträger – feierlich der Universitätsbibliothek Augsburg übergeben.

Humorvoller Wiener Kantor: Robert Singer kam nach Augsburg, um seine Sammlung der Uni-Bibliothek zu übergeben. (Foto: privat).

Humorvoller Wiener Kantor: Robert Singer kam nach Augsburg, um seine Sammlung der Uni-Bibliothek zu übergeben. (Foto: privat).


Die Unibibliothek Augsburg (UBA) hatte schon 1986 die wertvolle Sammlung des Marcel Lorand erworben – dabei handelt es sich um Synagogenmusik des 19. Jahrhundert, Singers modernere Sammlung passt hervorragend dazu. Laut Ulrich Hohoff, Leiter der Unibibliothek, verfügt seine Bibliothek nun über einen Bestand an jüdisch-liturgischer Musik, der innerhalb Europas ohne Gegenstück sein dürfte und „ein riesiges Reservoir für die künftige Forschung wie für die musikalische Praxis des Synagogengesangs darstellt.“

Man habe, sagt Hohoff, für Singers Sammlung „keine sehr große Summe bezahlt“ – über die Höhe des Kaufpreises sei aber Stillschweigen vereinbart worden. Im Erwerbsetat der Unibibliothek sei der Kauf unterzubringen gewesen, hilfreich sei dabei gewesen, dass für eine Tranche des Kaufpreises Sondermittel aus dem Wissenschaftsministerium in Höhe 10.000 Euro zur Verfügung standen. Der Kauf habe ins Programm der UBA gepasst, man verfolge aber keine Strategie, sich im Bereich der Judaika hervorzutun: „Wir wollen jetzt nicht weiter vergrößern.“

Gemeinsamer Gesang über theologische Grenzen hinweg

Der Sammler Robert Singer wuchs im Nachkriegs-Budapest als Sohn eines nicht zum Sänger ausgebildeten, aber in hohem Maße am jüdischen liturgischen Gesang orientierten Vaters auf. Bei der Feier in der Universität erzählte Singer lebhaft und mit fröhlichem Humor von dieser Zeit, in der sich in der Wohnung seines Vaters so heimlich wie regelmäßig eine „kantorale Viererbande“ getroffen habe. Der Hintergrund: Wie in vielen Gemeinden – und wie auch schon in der Vorkriegszeit – tobte in Budapest zu Anfang der 50er-Jahre ein leidenschaftlich ausgetragener Kampf zwischen dem so genannten „Reformjudentum“, das eine Erneuerung und Modernisierung der liturgischen Praxis anstrebte, und der Orthodoxie, die streng an den überlieferten Regeln festhielt. In der Öffentlichkeit wechselte man die Straßenseite, wenn man Anhänger der verfeindeten Fraktion traf – in Singers Wohnung aber trafen sich die konkurrierenden Kantoren am Sabbat, um gemeinsam zu singen. Denn das Interesse an der Musik war wohl größer als das am theologischen Streit.

In der Singerschen Wohnung wurde debattiert, gesungen, komponiert, notiert und „sehr, sehr viel herzlich gelacht“, wie Robert Singer im wohltuend weichen wienerischen Dialekt erzählt – er lebt seit 1961 in der österreichischen Hauptstadt. Ganz nebenbei tauschten die Kantoren – in der Synagoge die amtlichen Sänger des jüdischen Gottesdienstes – ihre Repertoires aus, lernte voneinander und überwanden dabei die theologischen Abgrenzungen. Zu Hilfe kam ihnen dabei die Tatsache, dass im jüdischen Leben der Gesang nicht nur zur Synagoge, sondern zum Alltag gehörte. Das leidenschaftliche Singen sei nicht nur Bestandteil des Sabbats gewesen, erzählt Singer, sondern habe zum Alltag gehört: „In jeder Lebenslage und zu jeder Tageszeit wurde gesungen – und zwar unter permanenter Abwandlung der Melodien.“

„Zehntausende Kantoren wurden umgebracht“

Singer ist der letzte lebende Zeuge der kantoralen Sonntagsrunde – er hat seit dieser Zeit gesammelt, was ihm in die Hände und zu Ohren kam, und auch selbst Aufnahmen eingesungen. Unter anderem trägt er in Augsburg –unterstützt vom Wiener Oberrabbiner Prof. Chaim Paul Eisenberg und dem Pianisten Rami Langer – die Vertonung eines Psalms vor, dessen Melodie er „von einem alten Mann aus Kiew“ gelernt hat. Der Mann war dort Kantor gewesen.

Ohne den deutschen Terror gegen die Juden und den Holocaust wäre Singers Sammelleidenschaft nicht nötig gewesen: Es seien „Zehntausende Kantoren umgebracht worden“, berichtet er, „die ganz wenigen, die überlebt haben, kehrten Europa den Rücken.“ Als Folge davon gibt es kaum noch Kantoren europäischer Herkunft, Synagogalmusik ist heute eher in den USA ein Thema. Und was in Europa an Resten der nahezu vernichteten jüdischen Kultur erhalten ist, hat einen entsprechend hohen Wert sowohl für die jüdische Tradition, wie auch für die musikhistorische Wissenschaft. Und natürlich für die lokale Synagogen-Kultur: Benigna Schönhagen, Leiterin des Jüdischen Kulturmuseums Augsburg, erinnerte daran, dass die Augsburger Juden in den 30er-Jahren gezwungen waren, die Orgel ihrer Synagoge zu verkaufen, um die hohe Grundsteuer zu bezahlen – für die Synagoge, deren Nutzung ihnen die Nazis gleichzeitig verboten hatten. Seither hat die Augsburger Synagoge keine Orgel mehr bekommen – wohl aber hat Schönhagen erst kürzlich in Israel ehemalige Augsburger Juden getroffen, die sich mit Wehmut an die Klangschönheit des Instrumentes erinnern.

Bis zur Digitalisierung wird noch Zeit vergehen

3000-jährige Musiktradition: Das Widderhorn spielt noch heute eine Rolle in der Liturgie der Synagoge (Foto: Universität Augsburg).

3000-jährige Musiktradition: Das Widderhorn spielt noch heute eine Rolle in der Liturgie der Synagoge (Foto: Universität Augsburg).


Jüdische liturgische Musik, darauf wies Günther Gründsteudel von der UBA in einem Vortrag hin, gehört zu den ältesten Musikkulturen der Welt – noch heute ist zum Beispiel das Widderhorn als liturgisches Instrument in Gebrauch. Schriftliche Überlieferungen dagegen sind selten. Erst als die Juden im 16. Jahrhundert aus Spanien und Portugal vertrieben wurden und sie sich in der Folge auch in Süd- und Westeuropa niederließen, begannen auch Aufzeichnungen ihrer Musik. Da adaptierten jüdische Komponisten allerdings bereits den europäischen Kompositionsstil, stiegen sie an den Fürstenhöfen zu wichtigen Musikern auf – wie beispielsweise der Italiener Michelangelo Rossi, der für seine Madrigale noch heute berühmt ist. Im Bedürfnis nach Austausch, Liturgiereform und Annäherung an die christliche Musikpraxis entstand im Lauf der Zeit und bis in die 40er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts hinein ein „Netzwerk europäischer Synagogenmusik“, das durch den Naziterror nahezu spurlos ausgelöscht wurde.

Umso wichtiger sind Sammlungen wie die des Robert Singer, die nun eine neue Heimat in der UBA gefunden hat. Doch der Umgang mit dem wichtigen Erbe ist nicht einfach. So sehr sich Singer erhofft, dass seine Tondokumente und Aufzeichnungen möglichst bald in digitalisierter Form allen Interessenten zur Verfügung stehen, so sehr muss Bibliotheksleiter Hohoff diesen Optimismus dämpfen. Denn im Gegensatz zum älteren Inhalt der Sammlung Lorand unterliegen Singers Dokumente noch dem Urheberrecht. „Selbstverständlich“, so Hohoff, werde die komplette Sammlung im Internet dokumentiert und sei in der UBA zugänglich. Doch vor einer vollständigen Freigabe im Netz müsste jeder Komponist und jeder Sänger gefragt werden – ein Sisyphusunternehmen, das noch dadurch verkompliziert wird, dass für Veröffentlichungen das Copyright des Entstehungslandes gilt. „Wir werden das in möglichst vielen Einzelfällen versuchen“, sagt Hohoff – doch das kann dauern.

Interesse auch in Hannover

Bis dahin haben Musiker und Wissenschaftler die Möglichkeit, in der UBA für den Eigenbedarf Kopien anzufertigen, auch kürzere Hörproben wird es im Internet geben. Interesse an der Musik sei unzweifelhaft da, betont Hohoff, und zwar besonders am Leopold-Mozart-Zentrum. In der Wissenschaft dagegen gebe es in Augsburg noch wenig „spezialisierte Forschung“. Ulrich Hohoff: „Ich würde mir Kontakte wünschen mit Leuten in Israel und den USA, die sich mit diesem Material beschäftigen.“ Solche Interessenten gibt es allerdings auch in Deutschland: Das Europäischen Zentrum für Jüdische Musik der Musikhochschule Hannover habe großes Interesse an der neu erworbenen Sammlung. Kein Wunder: Der dortige Professor Andor Izsák hat dieses Institut 1988 von der Uni Augsburg aus mit gegründet – noch bevor die beiden bedeutenden Sammlungen jüdischer Synagogalmusik in die hiesige Bibliothek kamen.