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Sonntag, 21.04.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

Reise ins Herz der Finsternis: Baal in München

Frank Castorfs Baal im Residenztheater ist eine Zumutung der schlimmsten Art, ist apokalyptisches Geläut, ist ein Albtraum und ein Ritt durch das Labyrinth der Finsternis – ist großes Theater.

Von Siegfried Zagler

 v.l. Aurel Manthei, Andrea Wenzl Foto:Thomas Aurin

v.l. Aurel Manthei, Andrea Wenzl — Foto: © Thomas Aurin

„Im Laufe seines Lebens kommt Brecht immer wieder auf Baal zurück. Er befreit sich von der ursprünglichen Antithese, entfernt sich von literarischen Vorbildern, glättet später den Stoff für Buchausgaben, was ihn kurz darauf schon ärgert: „Er ist zu Papier geworden, verakademisiert, glatt, rasiert und mit Badehosen undsoweiter“ (Brecht, 1920). 1926 tilgt er mit neuer sachlicher Kälte große Teile der expressionistischen Atmosphäre, um 1930 sammelt er Materialschichten für ein Fragment bleibendes Lehrstück „Der Böse Baal der asoziale, 1954 sieht er den Text erneut durch und notiert hintersinnig: „Ich gebe zu (und warne): Dem Stück fehlt Weisheit“. Der Typus des verkommenen Menschen, des rüden Weltverschlingers und -verdauers, des amoralischen Einsamen, beiläufigen Mörders und panischen Glückssuchers mit gleichmütiger Ichfixierung ist Brechts gesamtem Werk prominent eingeschrieben, auch in Figuren wie Fatzer, Puntila, Azdak und Galilei findet sich Baals genetischer Code. Sieht man von der Spur des „armen Poeten“, des im sozialen Abseits verreckenden Bürgerschrecks ab, wird eine andere augenfällig: die von Krieg, Desertion und Revolution an den Rändern ausgehöhlter, implodierter Zivilisation.

Liest man Baal auf der Folie von Krieg, dem Konglomerat seiner Entstehungszeit aus Weltkriegsende, Novemberrevolution und Münchner Räterepublik, wird die Flucht-Bewegung des Protagonisten aus der verlogenen Kriegs-Gesellschaft in den Untergrund sichtbar. Walter Benjamins Deutung, Brecht zeichne „diesen Hooligan als virtuellen Revolutionär“, der „aus dem schlechten, selbstischen Typus ganz ohne Ethos von selber hervorgehe“, zielt dorthin: Ursprünglich Teil der sozialen Gemeinschaft, spaltet sich Baal subversiv ab und wendet sich „gegen die Zumutungen und Entmutigungen einer Welt, die nur eine ausbeutbare Produktivität anerkennt“ (Brecht, 1954).

Baals obsessive Genuss- und Ichsucht wird so zum revoltierenden, anarchischen Akt gegenüber einer auf Zwang, Scheinmoral und Entfremdung basierenden Gesellschaft. Fliehend wird der große Asoziale zum Gesellschaftsdeserteur, zum gespenstischen Partisanen, zur dialektischen Figur, die der Aufstand gegen die eigene Sozialisation lustvoll zerreißt. Folgt man den Lektürespuren Brechts, kann man mit Baal dem vagabundierenden Dichterpaar Verlaine und Rimbaud nach Paris folgen, zur Kommune 1871, deren monströse Niederschlagung den Schüler Rimbaud in eine frühe Ernüchterung über die zivilisatorischen Errungenschaften seiner Zeit und zu gleißender literarischer Kraft führt. Von der Pariser Kommune aus, „Inspiration fast aller Revolutionen, die das 20. Jahrhundert erschüttert haben“, lässt sich eine Schneise bis in unsere Gegenwart schlagen: „Das 20. Jahrhundert begann am 18. März 1871 in Paris. Der Fluch, den diese bürgerliche Welt mit der Ausrottung der Kommune auf sich gezogen hat, ist nicht getilgt. Die Geister der Erschlagenen kämpfen weiter – immer noch, auch heute noch“ (Haffner, 1971). Mit Baal kann man den blutigen Sohlen der jüngeren Weltgeschichte folgen, hin zu den Revolutionen des 20. Jahrhunderts, hin zu den asiatischen und nordafrikanischen Schauplätzen der asymmetrischen Kolonial- und Dekolonialisierungskriege in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, nach Algerien, nach Vietnam. – Mit Baal kann man sich in den Wäldern verschanzen und beobachten, wie der Krieg in unsere Städte zurückkehrt. Im Riss, der durch Baal geht, zeigt sich das entstellte Gesicht unseres bürgerlichen Humanismus.“

So oder so ähnlich wird Frank Castorfs Baal-Inszenierung im Münchner Residenztheater in einer Art Vorwarnung von der Dramaturgin Angela Obst erklärt – vor Beginn der Vorstellung. Es handelt sich um einen großartigen Vortrag, beinahe um vorangestelltes Aufklärungstheater, das den bürgerlichen Spießbürger vor dem kommenden Theater der Grausamkeit warnt. Mit Brechts Baal kann man von der Bühne aus die Welt erklären, wenn man sie denn erklären will. Wer durch Erfahrung verstehen will, zahlt einen hohen Preis, es sei denn man ist Schauspieler, „weil man als Schauspieler in ein Leben schlüpfen kann, ohne den Preis dafür zahlen zu müssen.“ Das stammt von Robert de Niro und muss nicht stimmen.

Nach Brechts Tod, tauchte aus den Wäldern ein leibhaftiger Baal auf. Sein Name: Rainer Werner Fassbinder. Volker Schlöndorff sagt, dass Fassbinder während seiner Baal-Verfilmung zu Baal geworden sei. Fassbinder wollte die Geschichte der Bundesrepublik anhand von Frauenschicksalen erklären. Bertolt Brecht wollte die Welt erklären und mit seinem Baal ist ihm das bereits in jungen Jahren gelungen, will man Sebastian Haffner und Frank Castorf folgen, die aus dem Baal-Text eine Matrix der Weltgeschichte herausschälen. Frank Castorfs Baal ist unerträglich, ist unaushaltbar nicht nur zeitlich anmaßend, nicht nur billig provokativ nicht nur allegorisch komplex und gierig in seiner Lust nach Selbstauslöschung, er ist auch ein monströser Totengesang auf das Theater selbst. Mit seiner „Apokalypse-Now-Signatur“ entwirft Castorf den modernen Soldaten, der nicht fürs Vaterland oder einem höheren Sinn, sondern für sich selbst in den Krieg zieht, weil der Krieg in Baals Kopf nach Ablenkung sucht, nach Drogen, nach Sex und Untergang. Castorf hat mit seinem Baal Francis Ford Coppolas filmisches Meisterwerk „Apokalypse Now“ zu Ende gebracht. Joseph Conrads „Herz der Finsternis“ endet bei Coppola bei der Zerrüttung des Einzelnen durch die grausamen Widrigkeiten eines sinnlosen Krieges. Bei Conrads Novelle endet die Reise des Erzählers Marlow in den Abgründen und Untiefen des modernen Subjekts, das nicht zufällig dort ist, wo böse Dinge geschehen. Die Dialektik der Moral: „Zwei Seelen, eine tötet eine liebt.“ Und am Ende ist alles ohne Sinn, ohne Geschichte und ohne Verstand. Und so ist es kein Zufall, dass Castorf Brechts Baal in eine Inszenierung trägt, die kein Maß kennt – und kein Ziel. Das Theatergenie Frank Castorf hat Baal als das maßlose Ich der europäischen Kulturen begriffen, als Einstieg in die Erfindung des Inividualismus, als Wahnwitz der Freiheit des Einzelnen, die die innere Hölle in gesellschaftliche Prozesse, in Kriege ummünzte: höllische Ich-Exporte, die nun mit großer zerstörerischer Kraft nach Europa zurückkommen. Ein Regiewurf zurück in die Siebziger mit der Verwegenheit des zeigenden Gestus und mit der unbarmherzigen Verwegenheit eines Sehers, der die Moderne als Apokalypse begreift, betreibt Castorfs Baal einen wuchtigen Angriff auf die Erungenschaften unserer Zivilisationsgeschichte. Man muss dabei nicht verrückt werden: Es handelt es sich natürlich um nicht viel mehr als um eine bürgerliche Attitüde, um subversiven Theaterdonner, der in dieser ausgeformten Radikalität nur noch in der Lyrik und im großen Theater vorkommt.

Theater? Mit einer nahezu unterbrochen im Nebel versunkenen wie großartigen Bühne (Aleksandar Denic), die erst am Ende – als das Stück längst zur Groteske verkommen ist – ganz ausgeleuchtet wird, verschwindet nicht nur die Geschichte, sondern auch der reale Raum, die Bühne und sogar das Theater selbst. Die Zuschauer verfolgen das Geschehen  überwiegend auf zwei Leinwänden. Sie befinden sich weder im Theater noch im Kino, sondern in einer Theater-Simulation, in einer Facebook-Zwischenwelt, die wie Baal an der Auslöschung der Welt interessiert zu sein scheint. Die Akteure schlemmen sich im ersten Teil durch ihre Verzweiflung. Im zweiten Teil driftet das Erhöhte in eine Groteske. Was am Anfang groß war, steht am Schluss wie Müll auf der Bühne. Baal soll sterben, endlich! Die zeitliche Länge von viereinhalb Stunden lässt sich nicht durch dramaturgische Dichte, also durch etwas Notwendiges begreifen, sondern durch das kindliche Gemüt eines Frank Castorfs, der gerne quält, der gerne Baal wäre, aber eben nicht ist.

Große Schauspielkunst im Residenztheater, Aurel Mathei (Baal) Franz Pätzold (Ekart), Andrea Wenzl (Sophie), Hong Mei (die jüngere Schwester), Jürgen Stössinger (Gougou), Götz Argus (Watzmann) und Bibiana Beglau (Isabelle). Große Kunst, die nervt, weil sie ins finstere Herz unserer Zivilisationsgeschichte führt. Die nächste Vorstellung ist am 6. Februar. Für das Augsburger Brechtfestival sollte ein Programmpunkt nachgetragen werden: Busfahrten zu Brecht nach München.