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Samstag, 26.10.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

Preziosen aus der Kleistschen Sprachwerkstatt

Rolf Boysen las im Großen Haus „Die Marquise von O.“

Von Frank Heindl

Kraftvoll betritt er die Bühne: Rolf Boysen ist im Frühjahr 91 Jahre alt geworden – doch die merkt man ihm nicht an. Die ganze „Marquise von O.“ des Heinrich von Kleist will er lesen, und so kraftvoll, heftig und pathetisch, wie er seinen Vortrag beginnt, darf man annehmen, dass er bald eine Pause brauchen wird. Doch die kommt bis zum Schluss nicht – und auch das Publikum braucht keine, so fesselnd zieht Boysen es in eine Geschichte hinein, die man vorher bei der eigenen Lektüre für doch etwas angestaubt gehalten hatte.

Als einer der Star-Schauspieler im Ensemble der Münchner Kammerspiele, später des Residenztheaters, hat man ihn in Erinnerung. Sein „König Lear“ unter der Regie von Dieter Dorn ist unvergessen. Dass er so alt geworden ist, hatte man zunächst nicht glauben wollen – da half nur Wikipedia und Nachrechnen: 1920 ist Boysen geboren – tatsächlich: 91! Dann, in der ersten Viertelstunde seines Kleist-Vortrags, kam ein bisschen Skepsis auf: „So kann man das doch nicht machen!“ – manch einer wird ähnlich gedacht haben über Boysens Ansatz. Denn Kleists Novelle über das merkwürdige Schicksal der Marquise von O., die unwissentlich schwanger wird und per Zeitungsannonce nach dem Vater ihres noch nicht geborenen Kindes sucht, beginnt pseudo-dokumentarisch, tarnt sich, bei aller Genauigkeit in der Beschreibung auch der Gefühle der Handelnden, als sachliche Beschreibung.

Doch Boysen steigt in die Geschichte mit hohem Ausdruck ein, betont schon zu Anfang jedes Wort, gibt jeder Zeile mehr Bedeutung, als sie zunächst zu haben scheint, lässt jede Sachlichkeit im Ton fahren und legt schon jetzt enormen Pathos in die Schilderung, die doch erst Fahrt aufnehmen muss. Denn das Stück entwickelt sich langsam wie Kleists Text, der in seiner Ausführlichkeit und Genauigkeit nur langsam von der Stelle kommt – etwas respektloser könnte man Kleists Vorgehen einfach „umständlich“ nennen.

„Mein liebenswürdiges Kind! Wie rührst du mich!“

Doch Boysens Taktik ist fast diabolisch: Indem er nämlich den Text durch seinen Vortragsstil geradezu übertrieben pathetisch auflädt, lässt er eine Fallhöhe entstehen, von der aus er gelegentlich ein Wort regelrecht „fallen lässt“. Eine kleine Verzögerung am Satzende, eine Verlangsamung um Sekundenbruchteile, dann das fehlende Wort – und schon ist eine feine, untergründige Ironie entstanden, die man beim Lesen nicht entdeckt hatte. Und man darf gerne bezweifeln, ob Kleist das wirklich in allen Fällen so ironisch gemeint hat.

Genau so aber kommt Boysen der haarsträubenden Geschichte bei: Er nimmt sie nicht in allen Punkten ernst. „O Himmel! Mein liebenswürdiges Kind! Wie rührst du mich!“, sagt die Mutter zur kürzlich verstoßenen Tochter, und wenig später nennt sie sie schon „du Herrliche, Überirdische“. Nun muss man als Zuhörer schon grinsen, ohne dass Boysen sich dafür interpretatorisch noch groß ins Zeug legen müsste: Er hat unsere Ohren geschärft, vielleicht ein bisschen einseitig geschärft, er hat uns jedenfalls seine Interpretation schmackhaft gemacht. Wenn Mutter und Tochter dann den Vater „von weitem heranschluchzen“ hören, braucht es wieder nur diese minimale Verzögerung am Satzende – und das Publikum lacht lauthals.

Preziosen aus Kleists Sprachwerkstatt

Allerdings dominiert diese Ironie Boysens Vortrag nicht. Es bleibt genug Gelegenheit, um das Ohrenmerk des Publikums auch auf die Preziosen der Kleistschen Sprachwerkstatt zu lenken. „Wie erstickt von Gedanken, ging ihr die Sprache aus“, heißt es einmal von der Mutter der Marquise, und die enorme, permanente Präsenz Boysens schafft es in Kooperation mit Kleists unübertrefflicher Ausdrucksstärke, dass wir jedes Wort genau und in seiner ganzen Tiefe hören und verstehen.

Eine Pause, wie gesagt, gab es nicht. Der 91jährige auf der Bühne las zwei Stunden und fünf Minuten lang durch, versprach sich ein- bis zweimal, nahm keinen einzigen Schluck aus dem bereitstehenden Wasserglas, räusperte sich nie, hielt die meiste Zeit über seinen Blätterstapel in Händen, ohne ihn auf dem Tisch abzulegen, verlangsamte nie, ließ nie nachlassende Konzentration spüren. Und den Zuhörern – es waren viel zu wenige gekommen – war dabei keinen Moment lang langweilig geworden. Erst bei Boysens Abgang und seiner mehrmaligen Rückkehr vor das applaudierende Publikum konnte man ihm eine gewisse Erschöpfung anmerken. Doch das wäre einem weitaus jüngeren nicht anders gegangen.