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Freitag, 22.03.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

Kommentar

Pfiffe gegen Özil und Gündogan: Ein Orkan der Demokratie

Warum Mesut Özil und Ilkay Gündogan in der deutschen Nationalmannschaft nichts mehr verloren haben

Kommentar von Siegfried Zagler

Die Pfiffe der Fans der deutschen Nationalmannschaft gegen Mesut Özil und Ilkay Gündogan sind großartige Statements, die den Opfern des türkischen Unrechtsstaats gewidmet sein sollten. Sie sind als wohltuendes Hintergrundrauschen der Freiheit zu verstehen. Ein Hintergrundrauschen, das sich zu einem Orkan der Freiheit erheben sollte, sodass kein Zweifel mehr daran besteht, dass der DFB sich selbst ad absurdum führt, wenn er denkt, mit der Augen-und-Ohren-zu-Taktik bis zum Anpfiff der kommenden Fußball-Weltmeisterschaft durchzukommen. Wenn der Ball rollt, so die DFB-Strategie, spült die Welle der Begeisterung alles zu Schaum. Dass diese Strategie aufgeht, ist zu befürchten. Zu hoffen ist aber vielmehr, dass dem DFB und Joachim Löw ob ihrer bodenlosen Naivität die WM in Russland um die Ohren fliegt.

Wer die Gegner einer nach Gerechtigkeit strebenden Gesellschaft bekämpfen will, muss die Gaulands und Weidels bekämpfen. Die Feinde der Demokratie sind die Feinde einer offenen und freien Gesellschaft. Wer also die Feinde eines Rechtsstaats bekämpfen will, muss sich selbstverständlich auch gegen die willigen Unterstützer einer menschenverachtenden Politik stellen – und das tun zum Beispiel Fußballfans, wenn sie ihren Abscheu gegen einen verbrecherischen Staat zum Ausdruck bringen, indem sie die Özils und Gündogans auspfeifen.

Die Pfiffe gegen die beiden deutschen WM-Teilnehmer sind wirksame Instrumente der Meinungsfreiheit. Und sie sind die Musik der Hoffnung, die als Protest gegen die Verbrechen in der Türkei zu verstehen ist. Die Türkei, das kann man den professionellen Wegguckern, also den Bierhoffs und Löws nicht oft genug sagen, ist ein Schurkenstaat, in dem fortlaufend schwere Menschenrechtsverletzungen geschehen. Das kann man nicht „mal gut sein lassen“, wie es Bundestrainer Löw nach dem Vorbereitungsspiel gegen Saudi-Arabien sagte, als er die Pfiffe gegen Ilkay Gündogan kommentierte.

Die Freilassung des deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel hat nichts daran geändert, dass seit dem im Juli 2016 verhängten Ausnahmezustand in der Türkei mehr als 50.000 Menschen verhaftet wurden, darunter nicht nur mutmaßliche Putschisten, sondern auch pro-kurdische und oppositionelle Aktivisten, Richter und Journalisten. Mehr als 2100 Menschen wurden bereits verurteilt, davon rund 1500 zu lebenslanger Haft, ohne dass sie mutmaßlich etwas anderes getan hätten, als ihre Meinung zu sagen. Die Türkei ist nicht auf dem Weg in die Dunkelheit, sie befindet sich längst dort und hat eher die Aura einer Folterkammer als die eines zivilrechtlich organisierten Staates.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan und seine AKP haben den gescheiterten Putschversuch vor zwei Jahren zum Anlass genommen, eine Schreckens- und Gewaltherrschaft in der Türkei zu etablieren. Knapp die Hälfte der in der Türkei lebenden Türken leiden unter Erdogans Unrechtsstaat, da sie mit dem Schlimmsten rechnen müssten, wenn sie sagen würden, was sie denken. Auch von den Vereinten Nationen werden Erdogan schwere Verletzungen der Menschenrechte vorgeworfen. Schwer wiegt auch der latente Antisemitismus in weiten Teilen der AKP, der sich durch Erdogans Hassausbrüche gegen den Staat Israel zeigt.

Der tägliche Umgang mit türkischstämmigen Kollegen in den deutschen Betrieben, in der Nachbarschaft, beim Obsthändler, ja und sogar mit (ehemaligen) Freunden und Bekannten, die sich plötzlich als türkische Neo-Faschisten outen, indem sie unverblümt ihre Erdogan-Sympathie nach außen tragen, ist ein schweres Kreuz, ist ein kaum zu ertragender Schmerz, weil er mit einem großen Verlust verbunden ist. Denn schließlich „ist gegen Dummheit kein Kraut gewachsen“, wie der Volksmund sagt. Ein wie auch immer gearteter Faschismus muss in Deutschland mit der viel beschworenen Zivilcourage bekämpft werden.

Doch wie soll das gehen, wenn sich deutsche Nationalspieler in tiefer Verbundenheit mit einem Despoten fotografieren lassen dürfen, ohne dafür konsequent ausgeschlossen und geächtet zu werden? Wie soll das gehen, wenn sich „unsere Helden“ als Freunde eines Verbrechersystems darstellen und hinterher schweigen oder wie Gündogan nichts sagen, indem sie indifferente Bekenntnisse über „deutsche Werte“ twittern?

Wie soll das gehen, wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die unerträglichen Fotos verharmlosen?

Merkels Rhetorik der offensiven Verharmlosung mag bei ihr selbst nicht mehr richtig ziehen, für Gündogan und Özil wäre ein taktischer Umgang mit der Wahrheit die einzig mögliche Rettung. Die skandalösen Fotos als einen Unfall der Gedankenlosigkeit zu markieren, der sich nicht mehr wiederholen werde, wäre immerhin eine Lüge, die man den beiden gerne abnehmen würde. Gündogans Geschwurbel und Özils Schweigen lassen jedoch die Vermutung plausibel erscheinen, dass die beiden Superstars zu den 60 Prozent der türkischstämmigen Deutschen gehören, die Erdogan gewählt haben oder gewählt hätten, hätten sie wählen dürfen. Sollte es so sein, was anzunehmen ist, dann sollen sich die beiden auch zu ihrer politischen Haltung bekennen, so wie das zahllose in Deutschland lebende Türken ohne Umschweife tun.

Erdogans Helfer haben in der deutschen Nationalmannschaft nichts mehr verloren. Der DFB hat verpasst, was nun die deutschen Fußballfans mit Grandezza nachholen: die Ächtung der Feinde einer offenen Gesellschaft.