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Freitag, 14.02.2025 - Jahrgang 17 - www.daz-augsburg.de

Offene Münder, lachende Begeisterung

Das Philharmonische Orchester besucht Schulen

Von Frank Heindl

Heute darf getuschelt werden im Orchesterkonzert. Heute muss man zwischendrin Fragen beantworten. Heute kann man „ooh“ rufen, wenn man sich wundert, darf lachen, wenn man begeistert ist, auch mal in die Höhe hüpfen, wenn’s laut und fetzig zugeht. Heute darf man sogar über ehrwürdige Komponisten lachen. Heute ist nämlich das Philharmonische Orchester zu Besuch. In der Turnhalle. Gemeinsam macht man eine Reise. Rein musikalisch natürlich. Aber dafür um die halbe Welt.

Das Orchester solle „ausschwärmen“, hatte sich Generalmusikdirektor Dirk Kaftan zu Beginn seiner Amtszeit vorgenommen. Den Menschen, die, aus welchen Gründen auch immer, nicht zum Orchester kommen mögen, will er seine Musik „nach Hause“ bringen – an die Orte, wo sie sich aufhalten, wo sie sich wohlfühlen. Am Montagvormittag waren die Schulkinder dran.

Eine kleine Weltreise ist so ein Betriebsausflug wohl auch für die Mitglieder des Philharmonischen Orchesters. Raus aus der gewohnten Umgebung, raus aus dem Graben, hinein in die Welt der multikulturellen Vorstädte, in die Schulen, wo das Leben von morgen trainiert wird, wo die Modelle entstehen für das Zusammenleben der Zukunft. Nach Lechhausen zum Beispiel, in die Birkenau-Volksschule, wo Schulleiterin Bettina Barwig 15 Klassen hütet, wo der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund schon jenseits der 50-Prozent-Marke liegt, wo ein buntes Gemisch von Kindern aus aller Welt lärmend und schreiend durch die Gänge wuselt. Für manche von ihnen ist der heutige Tag so etwas besonderes, dass sie sich von den Eltern in dunkle Anzüge haben stecken lassen. Weil heute Konzert ist. Weil das Orchester kommt.

Eine Reise im Kopf für den multikulturellen Nachwuchs

Augsburg ist die Stadt mit dem deutschlandweit viertgrößten Migrantenanteil – da scheint es geboten, nach Mitteln und Wegen zu suchen, wie man den Nachwuchs an die traditionellen Werte heranführt. Und deshalb ist Dirk Kaftan mit seinen Musikern gekommen. 45 sind sie heute, und das sprengt die kleine, zugige, backsteinwandige Turnhalle fast. Stühle gibt’s nur für die Größeren und die Lehrer – die Kleinen sitzen ganz vorne, dort, wo die Musik spielt, auf blauen Turnmatten. Und lauschen.

Generalmusikdirektor Dirk Kaftan mit Schülern der Birkenau-Volksschule

Generalmusikdirektor Dirk Kaftan mit Schülern der Birkenau-Volksschule


Eine „Reise im Kopf“ hat der GMD ihnen angeboten. Wo sie denn hinwollten, hat er nach dem ersten Stück gefragt. Nach Indien, nach Rumänien, in die Türkei und nach Afrika, lauteten die Antworten. Stattdessen ging’s aber erst mal in den hohen Norden, wurde „Vallflickans Dans“ geboten. Und als danach die Musiker ihre Kontrabässe herzeigten, ging das erste langegezogene, staunende „Ooooh!“ durch die Reihen. Und weiter geht’s – jetzt ist Tschaikowsky dran, der Russische Tanz aus dem Nussknacker. Enorm, was für eine Präsenz das Orchester in diesem viel zu kleinen Saal entwickelt. Enorm, wie laut das wird. Offene Münder, befreites Lachen, nervöse Lehrer, die „pssst!“ und „schsch“ machen. Und allgemeine Begeisterung.

Dirk Kaftan, an dem womöglich ein Entertainer, ganz gewiss aber ein Pädagoge verlorengegangen ist, gibt zwischendurch ein bisschen Erdkundeunterricht, erzählt vom Krieg in Armenien und vom Befreiungskampf, den Aram Khachaturian in seinen Säbeltanz hineinkomponiert hat, lässt dann die Flöten seines Orchesters schrill und wild toben. Und als die Blechbläser dazukommen, schauen sich viele Kinder nach ihren Lehrern um. Die Musikinstrumente haben sie nämlich im Unterricht behandelt. Lehrerin Birgit Ruhl etwa hat mit ihren Schülern die einzelnen Instrumente aus dem Säbeltanz herausgehört. Das Xylophon, die Posaunen. „Das ist für Kinder mitunter schwierig“, hat sie festgestellt – aber jetzt erkennen sie wieder, wovon man gesprochen hat.

In ganz Süddeutschland einzigartig

Die Idee, ein Orchester zu sich an die Schule zu holen, reizt nicht nur die Lechhausener Pädagogen. 20mal schwärmen die Philharmoniker in dieser Saison aus, nicht nur in Augsburg, auch nach Landsberg, Pfaffenhofen, Kaufbeuren. Ein gutes Dutzend Anfragen habe man nicht befriedigen können, berichtet Orchestergeschäftsführer Sigurd Emme, sogar aus München werde nachgefragt. Kein Wunder: Außer einem ähnlichen Experiment in Coburg gibt es in ganz Süddeutschland kein städtisches Orchester, das sich in die Schulen wagt. Kulturreferent Peter Grab ist denn auch voll des Lobs für seinen GMD: Das Orchester leiste „eine wichtige gesellschaftspolitische Aufgabe“, und das gehe „weit über die normale Arbeit eines Generalmusikdirektors hinaus.“ Und auch über die eines Orchesters, fügt Kaftan hinzu und freut sich gleichzeitig, er habe nicht eine Stimme von seinen Musikern vernommen, die sich gegen das „Ausschwärmen“ in die Schulen gewandt habe.

Man muss nicht unbedingt romantisch veranlagt sein, um verstehen zu können, was an einem solchen Vormittag auch dann noch Spaß macht, wenn’s in der Turnhalle ungemütlich kühl ist: Es ist keine sehr fachkundige Begeisterung, die aus diesen Kindern spricht. Aber dafür kommt sie aus vollem Herzen. Der türkischstämmige Musiker Seref Dalyanoglu spielt, vom Orchester begleitet, auf der lautenähnlichen Ud eine türkische Liebesmelodie und wird dafür ebenso gefeiert wie für den anschließenden Sirtaki von Mikis Theodorakis. An welchem Meer Griechenland liegt, kriegen sie allerdings trotzdem nicht raus: Am Ozean? Am Schwarzen Meer? Oder am Nil?

Machtbewusster Nachwuchsdirigent

Der Höhepunkt des Konzertfestes ist da, als Dirk Kaftan ins Publikum fragt, ob denn mal jemand dirigieren wolle. Michelle, vierte Klasse, wagt sich nach vorn, schwingt zaghaft und rhythmisch etwas schwankend den Taktstock – und das Orchester gehorcht. Mal im Tempo, mal auch ein bisschen langsam tastet es sich nochmal durch Bizets Carmen-Ouvertüre. Dann kommt Evren dran. Der Nachwuchsdirigent aus der zweiten Klasse nutzt die Macht seines Amtes und zwingt den Musikern ein Affentempo auf, anschließend befiehlt er ein scharfes Ritardando, und dann wieder zurück, und dann nochmal. Ob’s Spaß gemacht hat, muss man ihn hinterher nicht fragen – das sieht man.

Danach gibt’s einen äußerst jazzig-schmissigen Mambo von Bernstein und schließlich noch ein schräges Cellokonzert von Friedrich Gulda, das mal nach Hardrock, mal nach Bierzelt klingt. Kein Wunder, wenn man weiß, dass der Komponist angelegentlich auch nackt vors Publikum getreten ist – schallendes Gelächter natürlich in der Turnhalle ob dieser Enthüllung. Mit einem Galopp (von Rossini) geht’s zu Ende – und mit brausendem Applaus natürlich. Ob so ein Vormittag bleibende Auswirkungen auf die Schüler hat – wer kann das sagen. Selbst wenn’s nur der Spaß wäre, den die Kinder hatten, hätte sich der Aufwand gelohnt. Bei dem einen oder der anderen wird wohl etwas hängenbleiben. So ein Gefühl, dass „Hochkultur“ etwas verdammt schönes sein kann.