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Dienstag, 14.01.2025 - Jahrgang 17 - www.daz-augsburg.de

Nach dem Spiel ist vor dem Spiel

Was spricht dafür, dass die deutsche Mannschaft am Sonntag im heiligen Fußball-Tempel Maracanã in Rio de Janeiro im Endspiel gegen Argentinien den World Cup holt? Die Antwort lässt sich nicht über das Brasilienspiel herleiten, aber man kann ein wenig im Kaffeesatz lesen.

Von Siegfried Zagler



Zunächst aber ein Wort zu der immer noch offenen Frage bezüglich des rätselhaften 7:1 im Halbfinale. War Brasilien so schwach oder Deutschland so stark? Die Antwort ist einfach: Brasilien war in dieser Partie kein ernstzunehmender Gegner und dennoch überzeugte die deutsche Mannschaft in einem Spiel, das nach der 1:0 Führung nach elf Minuten einem Trainingsspiel glich. Die deutsche Mannschaft hatte gegen desolate Brasilianer nicht die geringste Mühe, das Spiel in den gegnerischen Strafraum zu tragen und im Mittelfeld zu dominieren. Die Selecao spielte nicht nur im Halbfinale uninspirierten und holprigen Fußball, sondern von Beginn an. Sie hätte die Gruppenspiele gegen Kroatien und Mexiko auch verlieren können. Das Gleiche gilt für die beiden Finalspiele gegen Chile und Kolumbien. In vier von fünf Spielen waren die Brasilianer vor dem Halbfinale am Rande einer Niederlage. Gegen Deutschland verschwand eine ohnehin schwache Mannschaft im Nichts. Weniger rätselhaft bleibt das kollektive Versagen der Brasilianer, wenn man sich vor Augen führt, dass es ein ähnliches Spiel bereits einmal gab, nämlich das Finale 1998, in dem die Selecao viel höher als 0:3 gegen Frankreich verloren hätte, hätten die Franzosen die Partie konsequent zu Ende gespielt. Eine durchschnittliche Leistung der Deutschen und eine optimale Chancenauswertung reichte aus, um gegen diese Brasilianer mit 7:1 zu gewinnen.

Noch ein Wort zu den weinenden Spielern vor und nach dem Spiel. Will man den DAZ-Experten in Brasilien glauben, handelt es sich dabei um ein einstudiertes Theaterspiel, das die Spieler zu spielen hatten, um sich im Falle des Ausscheidens vor dem Zugriff des Mobs und der gesellschaftlichen Ächtung zu schützen. Wenn das brasilianische Volk glaubt, dass die Spieler mit ihm auf Augenhöhe leiden, dann wird ihnen das Ausscheiden und das Versagen eher verziehen. Die Spieler würden mit dieser Schauspielerei nicht nur sich schützen, sondern auch ihre Familien. Die Kulturgeschichte des Weinens bekommt mit dieser Auslegung ein zusätzliches und bisher unbekannte Konzept nachgereicht.

Damit kann man es auch sein lassen. Das 7:1 entstand nicht aus einer epochemachenden Leistungsexplosion der deutschen Mannschaft, sondern aus einem kollektiven Versagen der Brasilianer, deren gesamter WM-Auftritt zum Weinen war. Widmen wir uns also der Eingangsfrage. Ist die deutsche Mannschaft im Finale gegen Argentinien favorisiert? Ja! Diese Einschätzung hat aber wenig mit der deutschen Vorstellung gegen Brasilien zu tun, sondern mit dem Gesamtverlauf des Turniers. Argentinien konnte bisher in keinem Spiel richtig überzeugen. Die Mannschaft fiel eher durch ihren Teamspirit und durch ihre mannschaftliche Geschlossenheit auf als durch die Auftritte ihres Superstars Messi, der bisher in diesem Turnier unter Form spielte und dennoch gut genug war, um mit Federstrichen Entscheidendes beizutragen. Messi kommt meistens über rechts. Die linke Seite bildet mit Höwedes und Özil die Achillesferse des deutschen Spiels. Es ist gut möglich, dass sich der deutsche Trainerstab an dieser Stelle etwas einfallen lässt. Eine Möglichkeit wäre zum Beispiel, Messi im Halbfeld sehr intensiv zuzustellen und früh bei der Ballannahme zu attackieren, um der Außenverteidigung beim Draufgehen ein erfolgversprechendes Timing zu ermöglichen. Messi muss man allerdings, will man wegen seiner herausragenden Qualität die Mannschaft umstellen, über 90 Minuten und darüber hinaus ohne Unterlass bearbeiten. Mit Höwedes ginge das vielleicht, aber nicht mit der Kombination Höwedes/Özil. Vielleicht zieht Löw sogar Philip Lahm auf die linke Seite. Vielleicht sind die Laufwege Messis vom Trainerstab dergestalt erforscht, sodass Schweinsteiger, Kroos und Khedira im Mittelfeld genau wissen, wo sie ihn zu stellen haben. Die nächste Stärke der Argentinier hat einen klangvollen Namen: Angel di Maria. Ein Weltklassespieler, der sich allerdings im Viertelfinale gegen Belgien am Oberschenkel verletzt hat, sich aber seit gestern wieder im Training befindet. Sollte di Maria gegen Deutschland (in Form) auflaufen, so hätte Argentinien mit den beiden Zangen Messi und di Maria sowie mit Gonzalo Higuain in der Mitte gegenüber den Deutschen im Angriff formal ein leichtes Übergewicht, das aber nicht ausschlaggebend sein sollte, da weder von Messi in der bisher gezeigten Form noch von di Maria Großtaten zu erwarten sind und das deutsche Mittelfeld wesentlich torgefährlicher ist als das argentinische. Für die strapazierten Mittelfeldakteure ist nach sechs Spielen vor dem Finale festzuhalten, dass die Argentinier zweimal in die Verlängerung mussten und im Viertelfinale gegen Belgien am Ende der regulären Spielzeit auf der letzten Rille agierten und den verzweifelten Angriffsattacken der Belgier kaum noch etwas entgegenhalten konnten. Mit Abwehrchef Hummels und Torhüter Neuer als Feuerwehr-Libero kann der deutschen Mannschaft im Abwehrzentrum ohnehin niemand das Wasser reichen. Die deutsche Mannschaft ist inzwischen auch in taktischer Hinsicht gereift. Sie kann ein Spiel zum richtigen Zeitpunkt beschleunigen oder verzögern, während die Argentinier in diesem Turnier bisher nur einen einzigen Gang fahren konnten. Von ideenreichen Tempi-Wechseln war bei den Argentinier bisher nichts zu sehen.

Für die Freunde der Analogie-Pflege soll gesagt sein, dass 1954 die deutsche Mannschaft im Halbfinale mit einem 6:1 gegen Österreich ins Finale zog, während sich die Ungarn im Halbfinale mit Verlängerung und einem Zittersieg gegen Uruguay fürs Finale in Bern qualifizierten. Das Ergebnis ist bekannt. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass die Deutschen Weltmeister sind, was die Zahl der Halbfinal-Partien betrifft. Achtzehnmal hat eine deutsche Mannschaft an einem WM-Turnier teilgenommen, dreizehnmal zog sie in ein Halbfinale ein. Erstmalig 1934 mit einem gewissen Ernst Lehner vom TSV Schwaben, der damals alle Spiele bestritt. Achtmal überstanden die Deutschen ein Halbfinale. Von den acht Endspielen, das ist ebenfalls Rekord (1954, 1966, 1974, 1982, 1986, 1990, 2002, 2014), gewannen die Deutschen bisher drei: 1954, 1974, 1990. Würde man am Sonntag gegen Argentinien gewinnen, würde die deutsche Mannschaft mit dem vierten World-Cup-Gewinn mit Italien gleichziehen. Die Argentinier haben bisher fünfmal das Finale erreicht. Würden sie gewinnen, hätten sie ebenfalls dreimal das Turnier gewonnen.