Mit kleinen Schritten zur besseren Welt: Die Verleihung des Brechtpreises 2020 an Sibylle Berg
Es gibt ihn jetzt schon seit 25 Jahren, den Augsburger Brechtpreis. 1995 wurde er unter großem Medienrummel an das Enfant terrible Franz Xaver Kroetz verliehen – auch heuer fand die die Jury mit Sibylle Berg eine würdige Preisträgerin.
Von Halrun Reinholz
Die Preisverleihung war damals ein gesamtgesellschaftliches Ereignis, zumal Kroetz auch noch in der prominenten Begleitung seiner damaligen Ehefrau, der Schauspielerin Marie Theres Kroetz-Relin, und auch seiner berühmten Schwiegermutter Maria Schell zur Preisverleihung nach Augsburg kam. Für viele war Franz Xaver Kroetz ein Kommunist und deshalb als Preisträger nicht vertretbar. Doch genau das war auch für die Jury ein Anknüpfungspunkt an den Namensgeber des Preises. Der „Kommunist“ Brecht war der Grund, warum sich die Geburtsstadt so lang schwer getan hatte mit der Würdigung ihres berühmten Sohnes. Die Diskussion verlief in der Jury weniger kontrovers als befürchtet und auch die Stadt hatte keine Einwände gegen den Preisträger.
Zum 25. Jubiläum des Brechtpreises beleuchtet eine Sonderbeilage der Augsburger Allgemeinen Zeitung die Entstehungsgeschichte des Preises und widmet jedem der Preisträgerinnen und Preisträger eine Seite. Mit Sibylle Berg sind es nun zehn. Sie alle eint die vom Stadtrat beschlossene Vorgabe, dass der Brechtpreis an Autoren verliehen wird, die sich, wie Brecht, in ihrem literarischen Schaffen durch eine „kritische Auseinandersetzung mit der Gegenwart“ auszeichnen.
Als Preisträgerin für 2020 wählte die Jury Sibylle Berg aus. Bürgermeisterin Eva Weber gab in ihrer Begrüßungsrede unumwunden zu, dass ihr Sibylle Berg hauptsächlich durch ihre Kolumnen im „Spiegel“ bekannt sei – Kolumnen, die ihr immer wieder positiv ins Auge fallen, weil sie zur aktiven Mitbestimmung aufrufen und damit gegen das Ohnmachtsgefühl mobil machen, das einen angesichts der gesellschaftlichen Wirklichkeit immer wieder überwältigt.
Die junge Autorin wurde im DDR-Weimar geboren, kam um die Mitte der 1980er Jahre in den Westen und lebt heute in Zürich und Tel Aviv. In ihren 25 Theaterstücken und 14 Romanen setzt sie sich mit der Realität der Gesellschaft auseinander – mit Zorn, aber auch Empathie. Eva Weber sieht in ihre eine „auf- den-Hut-Hauerin“ im Sinne des Brechtschen Gedichtanfangs: „Der Mensch ist nicht so gut/Drum hau ihm auf den Hut.“
In ihrer Laudatio bescheinigte ihr die Literaturchefin der FAZ Sonntagszeitung Dr. Julia Encke ein Gespür für menschliche Abgründe, das sie in einer rhythmisierten Sprache eindrücklich artikuliert. Mit Brecht verbinde sie auch ein eigentümlicher Humor der Kategorie „glotzt nicht so romantisch“. Eine radikal praktische Grundhaltung, immer wieder durch Ironie gebrochen, bestimmt ihre Sicht auf die erkundete Welt, die sie, scheinbar unbeteiligt, zu erklären versucht.
In der Begründung der Jury wird Sibylle Berg bescheinigt, dass sie ihren Lesern nichts erspart, „auch nicht die Verantwortung, aus dem zu lernen, was sie da lesen oder sehen.“ Was für ein glücklicher Zufall, dass das Theater Augsburg in dieser Spielzeit eines der Stücke von Sibylle Berg auf dem Spielplan hat! Aus dem Theatertext: „Und jetzt: Die Welt“ zeigten die Schauspielerinnen Marlene Hoffmann, Linda Elsner und Karoline Stegemann den Besuchern der Preisverleihung einen Ausschnitt. Es handelt von der Orientierungslosigkeit junger Menschen im schnelllebigen Medien-Zeitalter. Aus aktuellem Anlass erhielt die eigentlich für einen eher kleinen Kreis gedachte Produktion in der SOHO-Stage nun weitere Aufführungstermine.
Sibylle Bergs Dankesrede ließ einiges von ihrer Ironie durchschimmern. Die Weltrettung sei ihre Sache nicht, denn die Reaktionen von Diktatoren auf Brandreden von Schriftstellern wie ihr seien im allgemeinen „überschaubar“. Sie glaube auch nicht daran, dass Worte den „Drang der Menschheit zur Selbstausrottung“ verhindern können. Ihr gehe es vielmehr darum, die kleinen Dinge im eigenen Umfeld zu verändern. Ein besonderes Anliegen sei ihr, das Augenmerk auf die Rollenbilder zu werfen, die immer noch von einer sehr männlichen Warte geprägt sind. Es gehe ihr darum, den Unterrepräsentierten Mut zu machen, ihnen Wege aufzuzeigen und die Kanons zu verändern, die nach wie vor „von Männern befüllt“ werden. Die weibliche Beharrlichkeit der kleinen Schritte, findet sie, zahle sich letztlich aus – im Kleinen zu kämpfen, im Rahmen des Möglichen. Dass sie dafür sogar einen Preis bekommt, empfand sie als passende Bestätigung ihres Bemühens.
Für die musikalische Umrahmung des Gala-Abends sorgte die Düsseldorfer Band „Kreidler“ (Andreas Reihse – Synthesizer, Thomas Klein – Perkussion, Alex Paulick – Bass), mit der Sibylle Berg bereits öfter aufgetreten ist. Die etwas aus der Zeit gefallenen Synthesizer-Klänge erzeugten eine 1970er-Jahre-Stimmung abseits des aktuellen Mainstream, der von Bürgermeisterin Weber bei der Verabschiedung gesondert gewürdigt wurde, mit dem Hinweis, dass „solche Musik viel zu selten im Goldenen Saal gespielt wird“. Auch ohne Brandreden erwies sich der Abend als nachhaltiger Impulsgeber für die kleinen Schritte zur besseren Welt.