Melancholischer Abgesang im Martini-Park
Die Ballettpremiere „Winterreise“ kann wegen der Corona-Maßnahmen nur als Live-Stream stattfinden
Von Halrun Reinholz
Endlich wieder Ballett! Unter schwierigen Probebedingungen mit Abstandsregeln hatte Ballettdirektor Ricardo Fernando mit seinem Ensemble die erste Ballettpremiere der neuen Spielzeit aus dem Hut gezaubert. Doch im letzten Moment fiel sie dem erneuten Corona-Lockdown zum Opfer. Das Zuckerl an dieser bitteren Pille: Alle hatten Gelegenheit, die Premiere im kostenlosen Livestream zu verfolgen. Eine gespenstische Angelegenheit, nicht nur wegen des fehlenden Publikums.
Schuberts Winterreise ist ein Liederzyklus, der kaum für lebensbejahende Daseinsfreude bekannt sein dürfte. Der Premierentermin am Vorabend von Allerheiligen ist sicher kein Zufall gewesen. „Ich werde euch einen Zyklus schauerlicher Lieder vorsingen“, hatte Schubert seinen Freunden angekündigt, als er dieses Werk zum ersten Mal zu Gehör brachte. Die depressive Grundstimmung der getanzten Winterreise wird schon beim Bühnenbild erzeugt, das hinter dem schwarzen Vorhang auftaucht: Ruinencharme, Reste früherer Pracht einer bürgerlichen Villa, zerschlagene Fensterscheiben, durch die der Wind weht, Nebel, Trostlosigkeit. Mehrere Menschen mit Koffern wandern rast- und ziellos über die Bühne. Mittendrin das lyrische Ich, der Wanderer, hier: der Sänger (Jacques le Roux).
Zumindest im Stream sind die Texte des Liederzyklus schlecht zu verstehen. Das ist schade, denn nur damit kann die auf der Bühne erzeugte Stimmung nachvollzogen werden. Vor dem Bildschirm hatte man die Möglichkeit, den Text zu spicken – leider nicht aus dem Programmheft, denn da ist er nicht abgedruckt.
Die Choreografie folgt dem Wortlaut mehr oder weniger genau. Kongenial zum düsteren Bühnenbild von Peer Palmowski hat sich Kostümbildner Stephan Stanisic aufwendige Verkleidungen einfallen lassen, mit denen sich einzelne Fantasie-Figuren von der Masse der grau-schwarzen Kofferträger und Schattengestalten abheben: Kronen, Geweihe, glitzernde Hundeköpfe, Plateau-Schuhe zu wallenden, farbig markanten Gewändern. Hirsche, Krähen, Bäume (der Lindenbaum! – das bekannteste der Lieder aus dem Zyklus) treten in den Dialog mit dem lyrischen Ich, ebenso der „rote“ oder der „weiße“ Tod, der Wind, der Frühling oder die Nacht. Zuletzt endet alles beim Leiermann, der die unstet suchende Wanderschaft zu beenden weiß in der ewigen Ruhe.
Weder die Texte von Wilhelm Müller noch Schuberts Musik beschränken sich auf die Darstellung einer äußeren Wanderschaft nach enttäuschter Liebe mit Selbstmordgedanken. Der komplexe psychologische Untergrund gibt vielfältige Ansätze zur Interpretation. Eine Besonderheit der Ballettproduktion ist demnach schon die Auswahl der musikalischen Begleitung. Von Schubert für einen Pianisten vorgesehen, forderte sie den erst vor einem Jahr verstorbenen Komponisten Hans Zender zu einer „komponierten Interpretation“ heraus. Er ersetzte den Pianisten durch ein Kammerorchester mit einigen originellen Abweichungen: ein Akkordeon etwa, eine Melodika, Windmaschinen sowie ein mächtiges Schlagwerk.
Domonkos Héja dirigierte das ungewöhnliche Ensemble mit würdigem Augenzwinkern. Auf diese Weise übernahm die Begleitung schon einiges von dem Psycho-Ambiente und bot den Tänzern Möglichkeiten der Verfeinerung. Das komplette Ensemble ist in die Produktion eingebunden und zeigt sich nicht nur in den Soloauftritten von seiner besten Seite. Umso bitterer der Gedanke, dass dies bis auf weiteres die einzige Gelegenheit war, die Vorstellung auf der Bühne zu zeigen. Gespenstisch der stumme Schlussapplaus vor dem (hoffentlich zahlreich) nur virtuell anwesenden Publikum. Die tieftraurige Melancholie und die Endzeitstimmung – sie bekommen in diesem Corona-Winter noch eine ganz andere Dimension.