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Sonntag, 10.11.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

„Man muss scharf zugucken“

Am 16. Oktober kommt Tschechows „Kirschgarten“ auf die Bühne des Großen Hauses

Von Frank Heindl



Aufs genaue Zusehen beim Kampf kommt es an im Theater – das dürfte eine Quintessenz des kleinen Brechttextes sein, den der Schauspieler Eberhard Peiker im Rahmen der Veranstaltung „Hereinspaziert!“ am Samstag im Stadttheater vorlas. Die Stadt Augsburg hat den Autographen dieses Textes unlängst erworben, doch aussagestark ist er auch ohne diesen aktuellen Bezug: Man müsse ins Theater gehen „wie zu einem Sportfest“, meint Brecht, denn meistens handle es sich beim Dargestellten „um einen Kampf. Man muss genau zusehen, wer gewinnt.“ Das Theater mache es möglich, „in die Leute hinein“ zu sehen. „Man muss nur scharf zugucken, es ist wie bei Ringkämpfen: die kleinen Tricks sind das Interessanteste.“

Wenn am Samstag, 16. Oktober Anton Tschechows „Kirschgarten“ zum ersten Mal aufgeführt wird (es ist die erste Premiere der neuen Spielzeit im Großen Haus), wird man wieder Gelegenheit haben, „scharf zuzugucken“ – auch wenn man Brecht nicht folgen und das Theater als „Sport“ definieren möchte. Tschechows Stück wird gemeinhin als Komödie bezeichnet, ist aber als solche nur vorstellbar, wenn man die immanente Tragödie als deren Bestandteil zu denken vermag. Denn mit dem Kirschgarten wird am Ende symbolisch auch die russische Gesellschaft „abgeholzt“ – Tschechow starb 1904 kurz nach der Uraufführung des „Kirschgarten“ und kurz vor Ausbruch der russischen Revolution, doch er mag schon geahnt haben, was da kommen würde. Eine Komödie, die beschreibt, wie das Alte weichen muss, um dem Neuen Platz zu machen, wird ohne Bestandteile der Tragik nicht auskommen.

Fast zu groß für Augsburgs Ensemble

Fast überfordert das Stück die Möglichkeiten des Augsburger Ensembles: Eigentlich hatte Tschechow ein „kleines“ Theaterstück schreiben wollen, doch geriet es ihm dann doch zu einem Großprojekt mit 13 Figuren. Schauspieldirektor Markus Trabusch kam zum Schluss, man könne keine der Rollen streichen, ohne den Kern des Stückes zu zerstören, der gerade in den mannigfachen und unentwirrbaren Beziehungen des Bühnenpersonals untereinander bestehe. Man warb also Gastschauspieler an und integrierte sogar Künstler aus den Nachbarsparten: In einer Nebenrolle wird der Bariton Stephen Owen als Landstreicher zu sehen sein.

Den „Kirschgarten“ müsse man geradezu inszenieren, wenn man eine Schauspielerin wie Ute Fiedler im Ensemble habe, meint Trabusch – man darf auf sie als Gutsbesitzerin Ranjewskaja gespannt sein. Judith Bohle wird als deren Tochter auf der Bühne stehen, Toomas Täht gibt jenen durchaus sympathischen Kaufmann, an den der blühende Garten letztendlich fallen wird – zum Abholzen ebenso freigegeben wie zum Neuaufbau der hoffnungslos veralteten russischen Wirtschaft.

Die Schließung der Komödie als hautnahe Analogie

Ob man ein Kleinod bewahren muss oder es aufgeben darf, um der Zukunft Raum zu verschaffen – dieses Problem, so Markus Trabusch, habe man in der vergangenen Saison am Beispiel der aufgegebenen Komödie in der Augsburger Altstadt detailreich durchgespielt, man habe geradezu „alle vier Akte des Kirschgartens permanent erlebt.“ Hautnahe Analogien also – doch das Faszinierende an Tschechows Stück sieht Trabusch nicht nur darin, wie differenziert der Autor sich des Themas annimmt, sondern vor allem, wie er deutlich werden lasse, dass alle seine Figuren den Prozess sehr unterschiedlich erleben, an dessen Ende es keinen Kirschgarten mehr geben wird. Wenn es der Augsburger Inszenierung gelingt, die innere Beweggründe der Handelnden transparent zu machen, wird man sich in gut zwei Wochen möglicherweise wieder an Brecht erinnern: „Es handelt sich meistens um einen Kampf. Man muss genau zusehen, wer gewinnt.“