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Literatur

Yvonne Herganes großartiger Familienroman “Die Chamäleondamen”

Der Roman von Yvonne Hergane “Die Chamäleondamen” erzählt innerhalb eines Zeitraums von 124 Jahren die Familiengeschichte von vier starken Frauen.

Von Halrun Reinholz

„Wie langweilig, denkt Edith in ihrer Hochzeitsnacht. Sowas stellt man sich doch ganz anders vor.“ Ein ungewöhnlicher Einstieg für einen Roman, der sofort neugierig macht. Ediths Hochzeitsnacht findet im Frühling 1919 in Reschitza statt. Das ist eine Stadt in Westrumänien, ehemals Industrie- und Montanzentrum der Habsburger Monarchie und Heimatstadt der rumäniendeutschen Autorin Yvonne Hergane, die hier einen Teil ihrer Familiengeschichte erzählt. 

Ort und Zeit des Geschehens stehen unter der Überschrift jedes Kapitels. Das ist nötig, denn die Schilderung der Ereignisse erfolgt nicht chronologisch. Vielmehr werden lose Fäden gelegt, Asso­ ziationen aufgegriffen, Parallelen gezeigt. Und doch gibt es am Ende ein zusammenhängendes Ganzes, eine Familiengeschichte über vier Generationen und 124 Jahre, von 1896 bis 2020. Vier Frauengenerationen, um genau zu sein – Edith, Marita, Ellie und Hanne stehen im Mittelpunkt des Geschehens. Die dazugehörigen Männer der Geschichte sind fast nur Statisten. Wie Ediths Ehemann Toni, den diese noch in der Hochzeitsnacht durch das Fenster verlässt für Viktor, den sie eigentlich zum Mann gewollt hätte, der sie aber nie gefragt hat. Er wird der Vater von Marita werden, die „in der Schule nicht zu antworten weiß, warum sie die braunen Augen vom Vater hat, den Namen aber vom Nachbarn“. 1940 bringt Marita Ellie zur Welt und die wird schließlich die Mutter von Hanne. In diese letzte Generation fällt auch die Ausreise der Familie aus Rumänien nach Deutschland.

Damit die Leser sich in dem Labyrinth der Geschichten zurechtfinden, steht vorne im Buch ein Stammbaum mit vier fett gedruckten Frauennamen, flankiert von etlichen Männernamen, viel kleiner und für die Handlung eher nebensächlich. Denn es sind die Frauen, die die Weichen stellen, die in den schwierigen Zeiten der Kriegsjahre und des Kommunismus dafür sorgen, dass die Familie funktioniert, dass die Töchter eine Zukunft haben. Dafür nehmen sie emotionale Demütigungen in Kauf, setzen sich über Rollenklischees und Verordnungen hinweg und zeigen sich in jeder Hinsicht erfindungsreich, autark und lösungsorientiert. Der rote Faden, der die vier Frauen über die Generationen verbindet, wird gleich am Anfang genannt: das „Einzelkinderbe“. Für die jeweilige Mutter ist die Tochter das wichtigste Lebensprojekt. „Ohne Väter keine Mütter … für den Anfang braucht man sie halt, für den Rest nimmehr“, bringt Edith die Dinge auf den Punkt.

Hanne, die jüngste der vier Frauen, ist das alter Ego der Autorin Yvonne Hergane, die 1968 in Re­ schitza geboren ist und im Alter von 14 Jahren nach Deutschland kam. Plastisch die Beschreibung der Kindheit in der Stadt, der Einschränkungen und Ängste im kommunistischen Alltag, die ihre Mutter Ellie verlässlich abschirmt, unterstützt von Marita und der „Omama“ Edith. Der Sehnsuchtsort der Kindheit ist „Fuchsental“, wo die „Pemen“ (Deutschböhmen) wohnen, unschwer als der beliebte Ferienort Wolfsberg im Banater Bergland zu erkennen, wohin sich die Familie an den Wochenenden flüchtet, um dem unerfreulichen Alltag zu entkommen. 

Die Puzzleteile ihrer Familiengeschichte dienen Hanne dazu, in ihrem eigenen Leben aufzuräumen. Bei der Aufarbeitung ihrer gescheiterten Beziehung schöpft sie Kraft aus der Erinnerung an die starken Frauen ihrer Kindheit. Deren Handlungen dienen ihr als Kompass für den Umgang mit ihrem Sohn Luis, der die „Frauenreihe“ der Generationen zwar durchbricht, aber als Einzelkind der Anker für Hannes Leben ist. An Ellies Grab, wohin sie sich in ihrer Verzweiflung und Ratlosigkeit flüchtet, erscheinen ihr die Frauen der drei vorangegangenen Generationen und statten sie mit den nötigen Ratschlägen aus, die jede Therapie hinfällig machen. „Du bist nicht allein, wir sind immer bei dir“, ist die Botschaft. Hanne kann sich zeitlebens an ihrem „Lieblingslebenston“ aufrichten: „Ellies glockenrotes Lachen, den Kopf in den Nacken gelegt, na also, sikstes.“

Yvonne Hergane, die als Autorin bislang mit Kinderbüchern sowie als literarische Übersetzerin in Erscheinung getreten ist, gelingt mit diesem Roman eine liebevolle Hommage an die Frauen ihrer Familie, die trotz der starken Botschaft nie ins Sentimentale abrutscht. Die Chamäleondamen haben Ecken und Kanten, aber das Herz auf dem rechten Fleck. Sie kennen ihre Schwächen, beschönigen nichts und bewahren auch in schlimmen Situationen, von denen es in ihrem Leben reichlich gibt, Humor und Selbstironie. Nicht zufällig kommt auch Augsburg als Schauplatz einiger Episoden vor. Es ist der Ort des Kulturschocks nach der Auswanderung, der Integration von Hanne, ihrer Mutter Ellie und ihrer Großmutter Marita in ein neues Lebensumfeld. Der Ort der ersten Liebesbeziehung von Hanne. Hanne besucht Marita im Augsburger Klinikum zum letzten Mal, bevor diese stirbt.

Eine besondere Rolle kommt der Sprache zu. Mit ihrer umgangssprachlichen und schnoddrigen Sprechweise aus dem Banater Bergland, einer markant österreichisch gefärbten Umgangssprache, wirken die Frauen mit ihren Botschaften äußerst lebendig. „Los mer zu, Kind, du und ich, wir sind ein Krokodil, wir gehen nicht unter. Nein, besser, Chamäleons sind wir, wir passen  uns überall an  und kommen durch, ich hab dir noch immer Essen aufn Tisch geschafft und die Chance auf einen  ordentlichen Beruf hätt ich dir auch besorgt, damit du  dein  eigenes Geld  verdienst und von  keinem Mann  abhängig  sein musst“, gibt Ellie als Fazit ihrer Lebenserfahrung  an  Hanne weiter. Doch die Sprache wird auch im interkulturellen Umfeld thematisiert, der „Banater Berglanddeutschenpantsch mit österreichischem Mehlspeisboden und rumänischen Kirschen obendrauf“, für den sich Ellie für ihre Tochter Hanne bei der Lehrerin entschuldigt. Umgekehrt wird sich Hanne später für ihre Mutter vor ihren bayerisch-schwäbischen Freunden schämen, „weil die Seabus statt Pfiati sagt und Leckwar statt Marmelade.“ 

Yvonne Hergane lebt, wie ihre Protagonistin Hanne, mittlerweile in Norddeutschland. Die Veröffentlichung ihres Romans in einem Augsburger Verlag schließt einen Kreis zu dem Ort, wo sie ihre ersten Eindrücke vom Leben in der Bundesrepublik gesammelt und danach auch auch studiert hat. Unabhängig von der Familiengeschichte bestehen enge Verbindungen zwischen der Industriestadt Reschitza und Augsburg: Als Anfang der 1970er Jahre unter dem Einfluss eines politischen Tauwetters in Rumänien die Industrialisierung mit westlicher  Hilfe vorangetrieben werden sollte, wurde die Augsburger Firma Renk zum Partner des Maschinenbauwerks in Reschitza. Nicht zuletzt deshalb haben viele Aussiedler aus dieser Stadt in Augsburg eine neue Heimat gefunden. 

Für die Lektüre von Yvonne Herganes „Chamäleondamen“ sind diese Zusammenhänge nicht weiter relevant. Die Beziehungsgeschichten zwischen Männern und Frauen, Müttern und Töchtern, Repression und Freiheit, Heimat und Fremde sind universell, zeitlos und amüsant. Ein wunderbares Lesevergnügen mit Tiefgang, das für die Liste „Bayerns Beste Independent Bücher 2020“ ausgewählt worden ist.

Yvonne Hergane: Die Chamäleondamen.  Roman. Augsburg: MaroVerlag, 2020. 240  Seiten, ISBN 978-3- 87512-493-4. 20 Euro.