Meinung
Kommentar zur Corana-Pandemie: Menschen vor Menschen schützen ist das Gebot der Stunde
Der Mensch ist des Menschen Wolf, so lange er nicht weiß, ob er ein für andere tödliches Virus in sich trägt. Deshalb muss der Mensch vor dem Mensch geschützt werden. Dass sich vernunftbegabte Menschen gegen ihre Natur verhalten und ihre sozialen Kontakte auf ein Minimum reduzieren, um andere vor einer möglich schweren Erkrankung zu bewahren, funktioniert offenbar nur, wenn der Staat das regelt.
Kommentar von Siegfried Zagler
In der Coronakrise übertrumpfen „Maßnahmen“ und „Verfügungen“ der Verwaltungen Länder und der Kommunen die vom Rechtsstaat geschaffenen Grundrechte und Gesetze. Das geht nicht dauerhaft, sondern nur über festgelegte Zeiträume. Die Möglichkeit hierfür liefert das Infektionsschutzgesetz.
Als sich im vergangenen Frühjahr die deutsche Bevölkerung im hohen Maß an die Verfügungen der Verwaltungen hielt, sanken die Inzidenzwerte nach wenigen Wochen deutlich, der Reproduktionsfaktor lag unter Null. Die Gefahr schien entschärft. Die Probleme, die nun den zweiten Lockdown erfordern, begannen mit den Lockerungen im Juli.
Das Virus verlor seinen Schrecken bei der Jugend bis hin zu den Mitdreißigern, da man zum Beispiel beobachten konnte, dass positiv getestete Personen in diesen Altersgruppen, allen voraus die Profifußballspieler, kaum gesundheitliche Probleme hatten. Es ist also durchaus nachvollziehbar, dass in allen Gesellschaftsschichten COVID-19-Skepsis und Coronamüdigkeit zunahm.
Daran, dass Deutschlands Ministerpräsidenten und Angela Merkel auf die richtigen Experten hören, ist nicht zu zweifeln. Dass sich aber die falschen Experten im Netz und in den Medien einer wachsenden Resonanz erfreuen, ist ein ernstzunehmendes Problem. Letzteres könnte auch damit zu tun haben, dass die Bekämpfung einer bedrohlichen Pandemie ein Polit-Paradox evoziert, gegen das schwer anzukommen ist: Je wirksamer die einschränkenden Maßnahmen sind, desto größer wird der Widerstand gegen die Politik, die diese Maßnahmen erlässt.
Dass in diesem Fall die Knute der Vernunft nicht bei den gewählten Parlamenten verortet ist, erhöht den Unmut der Unvernünftigen, die im Grunde die zweite Welle zu verantworten haben. Dass Vernunft nun „eingepeitscht“ werden muss, hat also viel mit dem Laissez faire des Sommers zu tun. Das gilt auch für die Politik. Die politischen Entscheider und Verantwortungsträger versäumten es, in den vergangenen sechs Monaten hygienische Nachlässigkeit und Nichtbeachtung der AHA-Regeln zu sanktionieren, die Gesundheitsämter aufzurüsten, weitreichende Maskenregelungen zu erlassen und eine bundesweite Gesetzeslage bezüglich der Coronapandemie zu schaffen.
Dass aber nun mit den aktuellen Verordnungen der Kulturbereich und die Gastronomie die Falschen „bestraft“ werden, also ausgerechnet diejenigen, die mit überzeugenden wie wirksamen Hygieneschutzmaßnahmen am wenigsten für das zweite Aufflammen des Infektionsgeschehens verantwortlich sind, ist nicht weniger paradox als der Irrwitz, dass sich die Kohorten der Partygänger, Urlaubsfahrer und Covidioten nun darüber echauffieren, dass sie nun öfters eine Maske tragen sollen und ihr Schnitzel zu Hause essen müssen. (In der Gastronomie, das soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, gab es nicht wenige „Schwarze Schafe“ in Sachen Hygiene- und Abstandsmanagement.)
Der aktuelle Lockdown ist zwar smarter als der erste und dennoch „für sich“ schwerer zu nehmen. Denn analog mit dem Verlust des Schreckens stieg in allen Schichten und Milieus die Bereitschaft zu einer zunehmenden Staats- und Politikverdrossenheit. Allein der Umstand, dass ein Augsburger FDP-Bundestagskandidat zu einer Demonstration gegen diverse Corona-Verordnungen aufruft, zeigt an, dass COVID-19 die Welt in eine bedenkliche Schräglage gebracht hat. Zugegeben: Diese ironische Bemerkung wirkt unpassend, wenn man bedenkt, in welch dramatischer Schräglage sich die Welt vor Corona befand.
Der Sachverhalt, dass in Deutschland der Staat die Kinder mehr vor ihren Eltern als vor dem Virus schützen möchte, zeigt an, dass in der deutschen Gesamtgesellschaft im Verborgenen schreckliche Zustände vorzufinden wären, wenn man genau hinsehen würde.
Nun ist es in Zeiten von Corona konkret so, dass man in die Kirche gehen darf, aber nicht ins Kino, dass man in den kommenden Wochen in Augsburg beim Spazierengehen am Lech, Wertach und am Kuhsee eine Maske tragen muss, beim Fahrradfahren und Joggen aber nicht. Dass Kinder in die Schule gehen dürfen, aber nicht ins Museum. Dass man nicht ins Restaurant gehen darf, aber mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit fahren. „Absurdistan“, so ein DAZ-Leser auf Facebook. – Der aktuelle „Lockdown light“ steht im Feuer der Kritik, da er für kaum zu rechtfertigende Ungerechtigkeit und Widersprüchlichkeit sorgt.
Vor vielen Jahren schrieb der viel zu früh verstorbene Journalist Rüdiger Schablinski eine unvergessene Glosse über Ordnung und Wahn. Schablinski wurde an einem Wochentag morgens um 6 Uhr von einem Polizisten fünf Mark abgenommen, weil er mit dem Fahrrad über den Hochablass fuhr, was durchgehend nicht gestattet war. Schablinski aber, wäre er noch unter uns, würde heute schweigen, da er sehr wahrscheinlich das Gesamtziel der einzelnen Maßnahmen für richtig halten würde.
Trotz aller widersprüchlichen Absurditäten sind die formulierten Ziele der Maßnahmen nämlich richtig: Kontakte vermeiden, Kontakte vermeiden, Kontakte vermeiden. Nur so lässt sich die Pandemie eindämmen.
Der lateinische Spruch „homo homini lupus“ geht auf eine Komödie des römischen Dichters Titus Maccius Plautus zurück. Im Originaltext (zirka 254–184 v. Chr.) heißt es wörtlich allerdings folgendermaßen: „lupus est homo homini, non homo, quom qualis sit non novit“, also: Ein Wolf ist der Mensch dem Menschen, kein Mensch, solange er nicht weiß, welcher Art der andere ist.
Seit Tausenden von Jahren ist im kulturellen Bewusstsein der Menschheit verankert, dass ein Sich-Kennenlernen als Voraussetzung notwendig ist, um Aversion, Hass und Krieg aus der Welt zu schaffen. Reduzierte Kommunikation führt bei Mensch (und Tier) zu Krankheit, Aggression und Tod.
Kommunikation muss stattfinden, und zwar überall dort, wo man sich treffen kann. In Wohnungen, auf öffentlichen Plätzen, in Restaurants, in Theatern, Museen undsoweiter. Aggression, Hass und Untergangsstimmung entstehen durch einen Mangel an Kommunikation, verfestigen sich durch falsche Kommunikation.
Doch aktuell stellt eine Sache alles andere in den Schatten: „Der Mensch ist des Menschen Wolf, so lange er nicht weiß, ob er ein für andere tödliches Virus in sich trägt.“ Die Politik muss Menschen vor Menschen schützen. Muss die heilige Räume der Zusammenkünfte restriktiv reglementieren und muss somit dafür sorgen, dass sich Menschen aus Vernunft gegen ihre Natur verhalten. Das ist eine Herkulesaufgabe, die nur gelingen kann, wenn wir uns als eine Gesellschaft begreifen, als solidarische Schicksalsgemeinschaft im Kampf gegen einen gefährlichen Feind.