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Samstag, 10.08.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

Meinung

Kommentar zum Kö-Prozess: Nach schweren Fehlleistungen der Ermittlungsbehörden folgte ein faires Verfahren

Die Justiz eines Rechtsstaat hat nach Gerechtigkeit zu streben. Recht und Gerechtigkeit stehen entgegen landläufiger Meinung (auch von Juristen) in einem Bezugsverhältnis. Schuld ist etwas, das festgestellt werden muss – von einem Gericht. Durch die Summe der Strafzusprechungen für Schuld entwickeln Bürger in einer rechtsstaatlich organisierten Gesellschaft ein Gefühl für Gerechtigkeit. Im doppelten Wortsinn ein “langer Prozess”.Kommentar von Siegfried Zagler

Foto: DAZ-Archiv

Am 6. März 1981 schmuggelt eine 31-jährige Frau eine Beretta Kaliber 22 in den Gerichtssaal des Lübecker Landgerichts und tötet kaltblütig einen 35-jährigen Mann. Sie feuert aus kurzer Distanz acht Schüsse ab, sieben Schüsse treffen den Mann in den Rücken. Er stirbt auf der Stelle. Das Opfer heißt Klaus Grabowski, die Täterin Marianne Bachmeier. Sie rächt den Tod ihrer Tochter. Ein grausamer Tod, den der Angeklagte Sexualstraftäter Grabowski zu verantworten hat.

Während des Prozesses gegen Bachmeier rückt die Staatsanwalt vom Tatvorwurf Mord ab und verhandelt Totschlag. Unglaublich auch das Urteil: Sechs Jahre Haft, raus in zweieinhalb. Vor dem Prozesse verkauft Bachmeier ihre Geschichte für 250.000 Mark (Quelle Wikipedia) dem STERN, der die Story ihres Lebens in 13 Folgen druckt. Das Leben der Täterin wurde ein Bestseller der traurigen Art: eine unglückliche Kindheit mit einem Vater, der Mitglied der Waffen-SS war, Demütigungen, Vergewaltigung, Flucht aus der Enge, erste Schwangerschaft mit 16, eine zweite mit 18 Jahren, beide Kinder wurden zur Adoption freigegeben.

Bachmeiers Tat, der Prozess und das Urteil wurden in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert. Damals gab es noch keine digitalen Plattformen, aber Umfragen und volle Leserbriefspalten. “Die Menschen hatten sehr viel Verständnis für mich,” so Marianne Bachmeier viele Jahre später. Noch keine 50 Jahre alt stirbt sie an Bauspeicheldrüsenkrebs und wird neben ihrer Tochter beerdigt.

Heute, also fast 40 Jahre später, ist festzuhalten, dass sich das Lübecker Landgericht in seiner Milde wohl von der veröffentlichten Meinung beeinflussen ließ.

Und endlich sind wir mitten im Augsburger “Kö-Prozess”, wo sich Richter Lenart Hoesch zu Beginn politisch äußerte, indem er zu verstehen gab, dass es nicht darum gehe, den Ablauf des Ermittlungsverfahrens aufzuarbeiten, sondern dass die Kammer nach Recht und Gesetz über die Tat zu urteilen habe, und dabei gehe es auch nicht darum, “vermeintlich bestehende Erwartungen der Gesellschaft zu erfüllen”.

Das von Hoesch angesprochene Ermittlungsverfahren gehört zu den größeren Justizskandalen der Nachkriegsgeschichte und müsste im Grunde ein “Sonder-Ermittlungsverfahren” nach sich ziehen. Welche Erwartungen die Gesellschaft in die Kammer setzte – und woher Richter Hoesch diese Erwartungen kennen wollte, blieb ebenfalls offen.

Falls “die Gesellschaft”, die real aus vielen Gesellschaften besteht, nach Wahrnehmung von Richter Hoesch das Gegenteil vom Bachmeier-Urteil erwartet haben sollte, also die größtmögliche Härte bei einem Kinnhaken mit Todesfolge, dann hätte Hoesch hinzufügen sollen, dass sein Strafmaßspielraum nach Recht und Gesetz zwischen 0 und 10 Jahren Haftstrafe liegt.

Festzustellen ist jedenfalls der Sachverhalt, dass der “Prozess-Vorlauf” seitens der Ermittlungsbehörden dergestalt ungeheuerlich war, dass ein unabhängiger Richter darauf hinweisen wollte, dass er unabhängig ist und nur nach Recht und Gesetz urteilen werde. Das Augsburger Jugendgericht hat sich in seiner Urteilsfindung nicht von der Hetze des Facebook-Mobs, sondern wohl eher vom Persönlichkeitsprofil des Haupttäters und dem Tathergang leiten lassen.

Halil S. hat im Jugendstrafvollzug nun 4,5 Jahre Zeit auf seine Tat zurückzublicken. Genug Zeit, um Distanz einnehmen zu können – zu sich und seinem Umfeld. Hat nun genug Zeit, seine Schuld anzunehmen, eine Berufsausbildung anzustreben, um geläutert und einsichtig einen neuen Anlauf zu nehmen. Auch das Strafmaß für die beiden Mittäter (Aussetzung und Bewährung), die den Freund des getöteten Opfers mitverprügelten, soll hier nicht als zu milde klassifiziert werden: Junge Menschen ändern sich dynamisch – nicht selten hin zum Besseren.

Die Stadt Augsburg ist durch die Gewalttat am 6. Dezember 2019 nicht unsicherer geworden. Im Gegensatz zum Geschehen in Chemnitz Ende August 2018 marschierte hier kein Nazi-Mob durch die Straßen, gab es kaum rechtsradikale Umtriebe, wovor sich möglicherweise die Augsburger Polizei und Staatsanwaltschaft, das Landgericht und das Oberlandesgericht fürchteten, da alle Tatverdächtigen Migrationshintergrund vorzuweisen haben.

Das ist das Freundlichste, das man den Ermittlungsbehörden in diesem Fall unterstellen kann.

Für Halil S. und seine Freunde ist zu hoffen, dass sie von Schuldeinsicht und Strafe samt Therapie geheilt werden, geheilt von ihrer Gewaltbereitschaft. Ob das Landgericht Augsburg für die jugendlichen Schläger das richtige Strafmaß gefunden hat oder nicht, hängt auch davon ab, wie das Leben der Gewalt-Junkies weiter verläuft.