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Donnerstag, 18.04.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

Kommentar zu den Morden in Halle: Antisemitismus ist kein Randphänomen

Es ist an der Zeit, die Realität anzuerkennen. Judenhass ist kein Randphänomen, sondern entstammt dem kulturellen Erbe der sogenannten abendländisch-christlichen Tradition.

Jüdische Synagoge in Augsburg © Siegfried Kerpf/Stadt Augsburg

 

Kommentar von Bernhard Schiller

Jedes Mal, wenn ein Mensch durch die Hand eines Menschen zu Tode gebracht wird, wird die gesamte Menschheit verwundet. Der Mörder von Halle hat zwei Menschenleben auf dem Gewissen, weitere Menschen hat er schwer verletzt. Ihnen, die noch immer namenlos sind, und denjenigen, die mit ihnen verbunden sind, gehört alle Anteilnahme.

Nun regnet es wieder Floskeln und Performative. Alle seien geschockt, alle seien betroffen, der Anschlag wäre ein Anschlag auf alle. Aber das ist nicht richtig.

Manche feiern die Tat, einige werden sogar gleichgültig bleiben. Der Täter war fest entschlossen, Juden zu ermorden. Was nur deshalb nicht richtig funktionierte, weil die Synagoge fest verschlossen war. Kaum vorstellbar, wie die Situation im Inneren des Hauses gewesen sein muss. Menschen, die um ihr Leben fürchten mussten und nicht wussten, was draußen los ist, wie viele Angreifer es sind und wer kommt, um sie zu beschützen und zu verteidigen. Und ob überhaupt jemand kommt. Synagogen in Deutschland sind für nicht angemeldete Besucher verschlossen und werden mit Hilfe von Kameras, Wachleuten oder Polizisten geschützt. Das ist an sich schon skandalös, gehört aber zur Normalität in diesem Land wie Burgerrestaurants und Kirchweihen. Kaum jemand juckt‘s. Diesmal muss es anders sein.

Der Anschlag galt Juden. Das Datum war nicht zufällig gewählt. Jom Kippur, das Versöhnungsfest, ist der wichtigste jüdische Feiertag. Er markiert das Ende einer Zeit der Umkehr, der Vergebung von Schuld durch tätige Reue sowie des individuellen wie auch gesellschaftlichen Neubeginns. Genau diesen Tag scheint sich der Mörder ausgesucht zu haben, um an die Verbrechen anzuknüpfen, die von Deutschland ausgingen. Auch die Schüsse „auf eine Dönerbude“ galten keiner Bude, sondern Menschen und es liegt nahe, dass ein deutscher Neonazi, dessen Vorbild vermutlich der Mörder von Christchurch war, auch dieses Ziel nicht zufällig ins Visier nahm. Das darf bei allen berechtigten Reaktionen auf den antisemitischen Anschlag nicht unter den Tisch fallen.

Die Tat kam nicht „aus dem Bodensatz der Gesellschaft“, wie der FAZ-Redakteur Jasper von Altenbockum noch am selben Tag nahelegte. Im Gegenteil! Sie kam direkt aus der Mitte. Wären die Umstände nicht derart schlimm, man könnte flapsig formulieren: Jede Gesellschaft hat den Bodensatz, den sie verdient. Antisemitismus ist weder ein Problem von Zugewanderten noch von irgendwelchen Rand- oder Bodenexistenzen. Zwar kommen haufenweise Menschen aus bestimmten Weltregionen nach Deutschland, von wo sie antisemitische Einstellungen und Judenhass mitbringen. Doch wer sich mit der Geschichte des Antisemitismus beschäftigt, der kann erkennen, dass vieles davon als Re-Import nach Deutschland zurückschwappt.

Es war der Propagandaapparat des Deutschen Reichs, der zwischen 1933 und 1945 den modernen Judenhass medial in muslimische Länder impfte. Wenn es jetzt ein sogenannter Neonazi war, der Juden ermorden wollte, so knüpft er an die hiesige und keine andere Tradition an. Einen Bodensatz gibt es in jeder Gesellschaft. Aber nicht jede Gesellschaft findet die Verantwortung für massenhafte Pogrome, systematische Ermordungen und einen industriell organisierten Genozid in ihren Geschichtsbüchern. Der Terroranschlag von Halle straft all jene Lügen, welche die Bedrohung durch den Antisemitismus bisher heruntergespielt haben. Oder die Gefahr nur dann sehen wollten, wenn es ihnen gleichzeitig gegen Muslime ging. Oder die sie rationalisierten unter dem – in der Regel auf Halb- und Unwahrheiten beruhenden – Hinweis auf den arabisch-israelischen Konflikt.

Damit muss Schluss sein! Antisemitismus ist kein Randphänomen, er hat seine Wurzeln mitnichten im politischen Geschehen des Staates Israel und er wurde auch nicht von einer bestimmten politischen Partei erfunden.

Der Hass auf die Juden ist fest in die Tiefenstruktur der sogenannten westlichen Zivilisation eingeschrieben. Tiefenstruktur meint etwas gänzlich anderes als Bodensatz. Der Nationalsozialismus war kein Fremdkörper, der im Januar 1933 aus heiterem Himmel aufs deutsche Volk fiel und selbiges infolgedessen aus allen Wolken. Er war und ist das Produkt religiöser und philosophischer Traditionen, die im spezifisch deutschen Kontext spätestens zur Reformationszeit zusammentreffen und die ihren Weg durch Wissenschaft, Medien, Kunst, Literatur und Erziehung, sprich durch das Denken, die Sprache und das Verhalten der Menschen bis ins 20. Jahrhundert und in die Gegenwart hinein fortsetzen.

Diese Linien zu sehen, erfordert vielleicht etwas Mut und etwas Kraft, vielleicht aber auch nur den einfachen, willentlichen Entschluss samt der Bereitschaft, die Schmerzen der Selbstkritik zu tragen. Aber die Anerkennung dieses Tatbestands wäre die Voraussetzung für die tiefgreifende Veränderung des Selbstverständnisses der deutschen Gesellschaft, die ebendiese Gesellschaft auch im 75. Jahr nach dem Ende des Nazi-Regimes noch schuldig bleibt und die sie dringend braucht. Alles andere ist nur die hohle Rede von „Verantwortung“.

Wir sollten uns nichts vormachen. Von einem „Wehret den Anfängen!“ braucht niemand mehr zu sprechen. Es hat bereits begonnen. Der Staat muss handeln, selbstverständlich, das ist seine Aufgabe. Aber auch und ganz besonders muss die Zivilgesellschaft handeln, die in ihren Diskursen wesentlich bestimmt, welche Gewächse auf ihrem Bodensatz gedeihen.