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Sonntag, 01.12.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

Jung gebliebene Justizposse

Premiere: Kleists „Zerbrochner Krug“ im Großen Haus

Von Frank Heindl

Arg zerkratzt sieht er aus, der Dorfrichter Adam. Doch auch wenn der Körper zerschunden und unausgeschlafen ist – einen hellwachen Geist hat Heinrich von Kleist seinem Dorfrichter Adam gelassen. Zurecht hat Regisseur Markus Trabusch im Vorfeld darauf hingewiesen, dass der schlaue Intrigant geradezu ein Paradebeispiel sei für Kleists These „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“: Der behende Fabulierer kann nur überstehen, wenn er es geistesgegenwärtig schafft, noch während des Redens geschickte Ausreden und dreiste Lügen zu improvisieren, noch den unglaubwürdigsten Ausflüchten einen Hauch von Wahrheit zu verleihen.

Ratlos vor dem Scherbenhaufen: Frau Marthe (Ute Fiedler) präsentiert das Corpus delicti, Dorfrichter Adam (Klaus Müller), Schreiber Licht (Alexander Darkow) und Gerichtsrat Walter (Tjark Bernau) bemühen sich um Aufklärung beziehungsweise Vertuschung.

Ratlos vor dem Scherbenhaufen: Frau Marthe (Ute Fiedler) präsentiert das Corpus delicti, Dorfrichter Adam (Klaus Müller), Schreiber Licht (Alexander Darkow) und Gerichtsrat Walter (Tjark Bernau) bemühen sich um Aufklärung beziehungsweise Vertuschung.


Die erste Schauspielpremiere der Saison am Großen Haus hat mit Kleists Vorlage einen klasse Text und unter Trabuschs Regie kitzelt das Augsburger Ensemble den Witz mit großer Spielfreude heraus. Schon gleich zu Beginn herrscht voyeuristische-kriminalistische Hochspannung, als Adam doppelt gefordert ist: Dem streberischen Schreiber Licht, der einiges zu ahnen scheint, muss er plausible Erklärungen für Kratzer, Beulen und abhanden gekommene Perücke liefern, gleichzeitig aber vermeiden, dass das locker sitzende Handtuch diesem (und dem Publikum) die darunterliegende blanke Blöße enthüllt – beides gelingt, aber doch mehr schlecht als recht. Auch das Beiseitesprechen, das Hinter-dem-Rücken-Intrigieren, die heimlichen Gesten, die stumm-mimischen Äußerungen von Verzweiflung, Verwunderung, Vertuschung – sie werden aufs Herrlichste ausgereizt, wenn die verschiedenen Parteiungen des Geschehens einander wechselweise hintergehen. Denn Adam (Klaus Müller) steht zwischen allen Fronten: Beim Prozess um den zerbrochnen Krug darf um Himmels Willen alles Erdenkliche herauskommen – nur nicht die Wahrheit. Der ausgerechnet an diesem Tag zur Revision angereiste Gerichtsrat (Tjark Bernau) soll das Bild einer intakten Rechtsprechung aus dem kleinen Huisum mit in die Stadt nehmen. Und der aufstrebende Schreiber Licht (Alexander Darkow) soll seine Karrierewünsche irgendwann einmal erfüllt bekommen – keinesfalls schon jetzt.

One-Man-Show für Klaus Müller

In dieser Gemengelage wechseln die Allianzen schnell, bleibt dem Adam nie die Zeit, sich seine Gedanken schon vor dem Reden zurechtzulegen. Dass die Rechtspflege dabei auf der Strecke bleibt, scheint unvermeidbar, doch auch das sollen die beiden anderen möglichst nicht mitbekommen. Die One-Man-Show, die Adam hinlegen muss, um seine Interessen zu wahren, die Bemühungen des Gerichtsrat, in diesem Wirrwarr den Durchblick zu bewahren, das Bestreben des Schreibers, seinen Vorgesetzten auflaufen zu lassen, ohne dass dies als böse Absicht interpretiert werden könnte – sie trägt die Augsburger Inszenierung über weite Strecken.

Zerkratzt vom Nebenbuhler: Adam und sein arg wehrloses „Opfer“ Eve (Sarah Bonitz).

Zerkratzt vom Nebenbuhler: Adam und sein arg wehrloses „Opfer“ Eve (Sarah Bonitz). Fotos: Nik Schölzel.


Schade allerdings, dass die anderen Rollen neben dem Hauptdarsteller-Trio so verblassen. Da ist die Klägerin Frau Marthe: Ihren zerbrochnen Krug will sie wiederhaben und erstickt ihr Bestreben doch halb in atemberaubender Ausführlichkeit und wortklauberischer Pedanterie. Ob es ihr daneben auch noch um das Wohl ihrer Tochter geht oder doch nur um einen aufgesetzten Ehrbegriff? – Es wäre vielschichtiger gegangen! Ebenso der Vater von Evchens Verlobtem: Wie schnell wird er in der Wirrnis der gegenseitigen Verdächtigungen vom Verteidiger zum Ankläger des Sohnes. – Auch ihn hätte die Inszenierung hinterfragen können. Die Zeugin Brigitte: Will sie dem Gericht nur helfen, oder ist sie vielleicht eine jener voyeuristischen Nachbarinnen, die nur allzu gern den vorgeblichen Missetaten der anderen nachspüren, die voll geifernden Eifers und anklagender Selbstgerechtigkeit hinter jeder unaufgeräumten Ecke den Beelzebub zu erkennen glauben? – Sie hätte gerne schriller agieren dürfen. Eve selbst, die in die Enge getriebene Tochter, erpresst vom Richter und auf einsamem Posten im Kampf um Ehre und Zukunft des Verlobten: Muss sie ein gar so ängstlich-verhuschtes „Herzensevchen“ sein, wie das Programmheft sie betitelt? – Ihr hätte ein wenig Koketterie zu mehr Glaubwürdigkeit verholfen, ein wenig Spiel und Provokation mit den erotischen Anwandlungen des greisen Richters.

Hauptsache, die Kassen stimmen

Und schließlich das sich in die Länge ziehende Ende: Natürlich wird der Dorfrichter entlarvt, natürlich gibt sich der Gerichtsrat geschockt vom Machtmissbrauch in der Provinz – und doch hat er längst erkennen lassen, dass der Obrigkeit nicht in jedem Fall an restloser Aufklärung gelegen ist, dass man im äußersten Fall doch besser zusammenhalten sollte. Und dass für das Auskommen des Rechtsverdrehers trotz allem gesorgt werde, sofern „die Kassen richtig sind.“ Darauf kommt’s schließlich vor allem an! Diesen sarkastischen Moment in Kleists herrlich jung gebliebener Justizposse von 1806 kostet die Inszenierung leider nicht aus.

Marc Bausbacks in schrilles Hochglanz-Blutrot getauchte Bühne korrespondiert nett mit den Warnfarben der Justiz und dem Leuchten des Eros. Die vielfach verwendete elektronische Verstärkung – als Sitzgelegenheiten stehen ausschließlich Verstärkerboxen zur Verfügung – bringt gekonnt die vor Gericht und Medien verlorene Intimität in Spiel, macht zwischen Rückkopplungskreischen und dem erregten Atem der Eve den Gegenstand des Verfahrens zur Reality-Soap, bringt aber auch die flüsternd-heimlichen Beratungen der Beamten laut genug vor die Ohren der Öffentlichkeit und des Publikums, das, wenn der Eindruck nicht täuscht, durch ein paar (gewollt) übereifrige Claqueure und Lacher verstärkt war. Ein „Zerbrochner Krug“ also, der ein bisschen arglos-fröhlich daherkam. Aber vor allem dank des virtuosen Miteinanders der drei Hauptdarsteller trotzdem kein vertaner Abend.