Jesus Christ Superstar: Ein Mythos, den wir überwinden sollten, statt ihn zu verfestigen
Bereits zum zweiten Mal im noch relativ jungen dritten Millennium der Zeitrechnung läuft die Rockoper „Jesus Christ Superstar“ auf der Augsburger Freilichtbühne. Immerhin ein Werk, das textlich dem Vorwurf der Judenfeindlichkeit ausgesetzt war und ist. Die von Cusch Jung geleitete Produktion des Staatstheaters Augsburg unternimmt dagegen nichts.
Von Bernhard Schiller
Als „Jesus Christ Superstar“ am 12. Oktober 1971 in New York City uraufgeführt wurde, war Andrew Lloyd Webber geschockt. Der Komponist der Rockoper nannte die Inszenierung eine „vulgäre Travestie“ und erinnert sich an diese Premiere als die „schlimmste Nacht meines Lebens“. Ein ähnliches Verdikt fällte er über die Verfilmung des Bühnenstücks, die er aus ästhetischen Gründen „hasst“, wie er den Lesern des „Daily Telegraph“ im Jahr 2012 verriet. Doch was dem Schöpfer missfiel, bewegte die Massen. Denn zum einen war da endlich ein Jesus, der sexy erschien und allzu menschliche Züge aufwies, der mit der Hure Maria Magdalena schlief. Gott war Mensch geworden! Zum anderen war das, was Lloyd Webber und nicht minder der textverantwortliche Tim Rice versuchten, bis dato unerhört: Eine psychologische Erzählung aus der Perspektive der Täter, allen voran des Judas. Das schlug auch bei Christen ein, der Stoff fand Eingang in den Bibelunterricht zahlreicher Gemeinden in den USA, die einen modernen Blick auf ihren Erlöser werfen wollten, sogar Radio Vatikan widmete sich dem Thema wohlwollend.
Selbstverständlich gab es auch ein paar Einwände von christlicher Seite, wie das Staatstheater Augsburg in seiner Ankündigung nicht zu erwähnen vergisst. Was aber weder das Augsburger Theater noch den britischen Komponisten wirklich zu stören scheint, ist der Konservativismus der gesamten Handlung. Das vor einem halben Jahrhundert angeblich so Modernistische, Groovige des Musicals, der Superstar-Sexus, ist im Jahr 2019 zwar längst altbacken wie nach der Fronleichnamsmesse übriggebliebene Hostien, jedoch scheint das als Rockoper ummantelte Passionsspiel immer noch fetzig genug zu sein, um das zentrale antijüdische Motiv der christlichen Weltdeutung nahezu ohne Reibungsverluste in die Gegenwart zu transportieren.
Proteste von jüdischer Seite
Was das Staatstheater Augsburg nicht erwähnt: Proteste gab es damals auch von jüdischer Seite. Diese waren nicht nur gegen das Bühnenstück von 1971, sondern insbesondere auch gegen die kurz darauf folgende Filmversion von Norman Jewison aus dem Jahr 1973 gerichtet. Darin werden etwa der Hohepriester Kajaphas und der Hohe Rat als nach Blut dürstende Geier dargestellt, die über dem Geschehen thronen, in schwarzer Kleidung und grotesken Hüten als das Böse charakterisiert. Das historisch überlieferte Gewand der Hohepriester war weiß und blau mit bunten Versatzstücken. Der römische Statthalter Pontius Pilatus, in der historischen Realität ein äußerst brutaler Gewaltherrscher und zehntausendfacher Mörder, ist in „Jesus Christ Superstar“ ein zurückhaltender Vertreter des römischen Kaisers, der die Mordlüsternheit der Juden nicht nachvollziehen kann, ihnen aus machtpolitischen Erwägungen am Ende aber gibt, wonach sie gieren. Wörtlich lässt Tim Rice den Kajaphas zu Judas sagen: „Judas, thank you for the victim, stay a while to see it bleed.” Die in der Augsburger Aufführung verwendete deutsche Übersetzung der Texte bleibt hart am Original.
Die Juden wollen den Erlöser der Menschheit verhindern
Rice und Lloyd Webber bedienen also nicht nur das gewöhnliche christliche Narrativ vom Sühnetod Jesu. Sie gehen vielmehr soweit, den Juden zu unterstellen, sie verlangten ein Menschenopfer. Ein Mythos, den wir heute überwinden sollten, statt ihn zu verfestigen.
Schließlich ist es ein, wenn nicht sogar das Wesensmerkmal der jüdischen Religion, Menschenopfer zu überwinden und damit verbundene Kulte zu ächten. Der Rice-Text, der fast ein halbes Jahrhundert alt ist, ist dabei in höchstem Maße unsensibel gegenüber dem, was historisch mit dem Thema Juden und Opfer assoziiert ist. Rice lässt den Hohen Rat angesichts dessen, was sich im Volk zusammenbraut, fordern: „No wait – we need a more permanent solution to our problem.“ („Denn dieses Problem verlangt endgültig eine Lösung.“) Die Botschaft dieses Satzes ist eindeutig: Die Juden wollen den Erlöser der Menschheit verhindern. Und so lässt Rice seinen Superstar über Jerusalem, sprich die Juden, wehklagen: „My poor Jerusalem. You’d see the truth. But you close your eyes. … You only have to die.” In der deutschen Übersetzung singt Jesus: „Du würdest sehen, was die Wahrheit birgt. Doch Du stellst Dich blind.“ Die Verblendung – bzw. „Verstockung“ in der lutherischen Variante – der Juden ist das wohl älteste antijüdische Motiv des Christentums, wie es etwa in der Karfreitagsfürbitte (die seit dem Jahr 2008 auch bei katholischen Messen wieder formuliert wird) Ausdruck findet: „Lasst uns auch beten für die Juden (…), damit sie Jesus Christus erkennen, den Retter aller Menschen.“
Als wäre die Freilichtbühne der Mariendom
Eine besondere Rolle in „Jesus Christ Superstar“ erhält Judas, der Jünger, der Jesus verraten haben soll. Rice und Lloyd Webber lassen ihn als durchaus menschlichen Charakter erscheinen, dessen Beweggründe laut Rice nachvollziehbar seien. Das Programmheft des Staatstheaters Augsburg erläutert dazu: „Webber und Rice zeigen einen Menschen, der das Tun seines Freundes nicht mehr begreift und infrage stellt, sich aber weiterhin ungebrochen zu ihm hingezogen fühlt.“ Dadurch würde Judas, „zu einer Person, mit der wir mitleiden.“ Es ist kein Geheimnis, dass der Mann mit dem jüdischen Ehrennamen Judas schon von den Verfassern der Evangelien als Sinnbild für das gesamte jüdische Volk angelegt war. Dementsprechend kann das, was auch über den Judas in „Jesus Christ Superstar“ gesagt wird und was dieser sagt, als Werturteil über die Juden verstanden werden. Und was sagt er, nachdem Jesus ihn einen „Lügner“ nennt? „You want me to do it! … Christ you deserve it!” Das jüdische Volk wird hier vorgeführt als ein Lügner („You’d see the truth. But you close your eyes.“), der (ohne selbst zu begreifen, was da eigentlich passiert) fremdgesteuert den Willen Gottes vollstreckt, den Christus zu opfern und auf diese Weise die christliche Heilsgeschichte in Gang zu setzen. Und der Zuschauer soll mit dieser Judengestalt Mitleid haben, als wäre Karfreitag und die Freilichtbühne der Mariendom.
Auf ein weiteres, bedeutendes Merkmal christlichen Antisemitismus muss an dieser Stelle hingewiesen werden: das Wegwischen der Unterschiede zwischen den verschiedenen jüdischen Gruppierungen und die Verleugnung der Differenzen im jüdischen Volk zugunsten des Stereotyps von „den Juden“. Historisch ist es nicht unwahrscheinlich, dass der Hohepriester Kajaphas und sein Hoher Rat sowie der König Herodes Antipas samt Gefolge an der Verfolgung des Jesus beteiligt waren, zumal diese mit den römischen Besatzern paktierten. Ausgerechnet die auch im Volksmund dauerhaft verunglimpften Pharisäer aber standen Jesus und seinen Jüngern aller Wahrscheinlichkeit nach am nächsten. Von einer Beteiligung der Pharisäer am Prozess des Hohen Rates gegen Jesus wissen selbst die Evangelien nichts. Wohl aber wollen Andrew Lloyd Webber und Tim Rice wissen, dass die Pharisäer zu Kajaphas gekommen sind, um über das Problem Jesus zu beraten („The Pharisees and priests are here for you.“, „He ist dangerous.“). Entsprechend der Erzählung der beiden Urheber werden auch auf der Freilichtbühne Hohepriester, Pharisäer, Herodianer zusammen mit dem jüdischen Volk (das gegen Ende ja geschlossen und emphatisch Jesus‘ Kreuzigung fordert), zu einem unterschiedslosen Kollektiv verdichtet, welches als jüdische Einheit blind, lügnerisch, dumm und blutrünstig agiert.
Der Zuschauer soll ins Herz des Judentums blicken
Ganz wie in genanntem Film erleben die Zuschauer auf der Augsburger Freilichtbühne das Geschehen am historischen Ort. Tatsächlich beeindruckend ist das Bühnenbild vom Team um Karel Spanhak. Laut Regisseur Jung soll die Kulisse am Roten Tor Amphitheater und Klagemauer in einem sein. Gerahmt von zwei an den Jerusalemer Tempel erinnernden Säulen besteht kein Zweifel: die Geschichte spielt im Herzen des Judentums. Hier und nirgendwo sonst wird der Erlöser gekreuzigt, geopfert. Ähnlich wie bei Jewison wird die obligatorische Szene der „Vertreibung der Händler aus dem Tempel“ auch bei Cusch zum Sinnbild einer empathielosen, dem obszönen Kommerz unterworfenen Spaßgesellschaft, zu deren Füßen die Armen und Siechen ihre mit letzter Kraft aktivierte Hoffnung auf diesen Erlöser setzen. Sicher ein starkes Bild, das treffend in unsere Tage zu passen scheint. Doch die verkommene Gesellschaft im Judentempel besteht ausschließlich aus: Juden.
Die Episode von der Tempelreinigung ist der Dreh- und Angelpunkt der kompletten Jesusgeschichte. Aus Sicht der Evangelien unterschreibt Jesus von Nazareth mit der Aktion sein Todesurteil. Seit jeher greift der aus dem Christentum kommende Antijudaismus auf diese Sequenz zurück, um die angebliche Verderbtheit des jüdischen Volkes zu unterstreichen und den Ersatz der bösartigen, jüdischen durch die gute, christliche Religion zu legitimieren.
Der in den Evangelien überlieferte Reinigungswutanfall des Wanderpredigers steht historisch wahrscheinlich im Kontext einer innerjüdischen Diskussion über die Ausrichtung des Tempelkults und ist nicht zwingend gegen die Juden gerichtet. Antisemitisch wird er durch die sich darauf beziehende Abgrenzung des hell erleuchteten Christentums als Gegenentwurf zur dunkel-satanischen jüdischen Religion. Sich dagegen zu wehren hat die aktuelle Augsburger Inszenierung leider verpasst: Am Ende erhebt sich ein überdimensionales, lichtstrahlendes Kreuz – wie von Gottes Hand gelenkt – in den Nachthimmel am Stadtgraben. Das kann als Zeichen triumphaler Auferstehung gedeutet werden. Oder – und das schließt die erste Interpretation überhaupt nicht aus – als hegemonialer Kruzifixerlass.
Jüdische Christusmörder auf der Freilichtbühne
Dass die Vorwürfe aus den 1970er Jahren nach wie vor berechtigt sind, zeigt die Produktion des Staatstheaters Augsburg unter Cusch Jung. Unverkennbar dient die von Lloyd Webber geschmähte Verfilmung von 1973 als Vorlage. In einem bemerkenswerten Detail weicht die Augsburger Ausgabe des Passionsspiels von dem populären Hippiestreifen aber ab: Am Roten Tor sind es die jüdischen Wachleute des Hohen Rates, die Jesus Nägel durch Fleisch und Knochen treiben und nicht – wie im Film und dem literarischen Original aller vier Evangelien – Soldaten des Imperium Romanum. Also fordert das Volk der Juden im Jahr 2019 im Staatstheater Augsburg die Kreuzigung des Jesus nicht nur, sondern liefert auch gleich deren willige Vollstrecker mit. Wo es die Evangelien schon nicht so genau nehmen, verstärkt die Rockoper unter Regisseur Jung die Legende, dass Juden Christus ans Kreuz geschlagen haben. Mal wieder. Wie man das seit Jahrhunderten eben so handhabt, von Tarsus bis Wittenberg und von Oberammergau bis Augsburg.