Intolleranza: Welttheater in Augsburg
Die gelungene Wiederbelebung eines Stadttheater-Konzepts
Von Siegfried Zagler
Neun Vorstellungen, en suite: Nach weniger als drei Wochen fiel am vergangenen Sonntag der letzte Vorhang. Die Rede ist von neun spektakulären Aufführungen, die das Augsburger Stadttheater mit einem Donnerschlag kurzfristig in die erste Liga der deutschen Theaterlandschaft katapultierten. „Es ist eine radikale, eine verstörende, eine immer noch brandaktuelle Oper, die der Italiener Luigi Nono vor gut 50 Jahren unter dem Titel “Intolleranza 1960″ geschrieben hat“, so Frank Heindl in der DAZ. In allen Besprechungen der großen nationalen Feuilleton wurde das Augsburger Stadttheater für die Qualität der Inszenierung gefeiert. In der Geschichte des Augsburger Stadttheaters ein einmaliger Vorgang. Und dennoch fehlte in den Feuilletons ein Gedanke: Regisseur Ludger Engels und sein Ausstatter Ric Schachtebeck haben in Zusammenarbeit mit dem Grandhotel und lokalen Künstlern eine Anleihe bei Antonin Artaud genommen. Das „Theater der Grausamkeit“ als abstrakter Klangkörper von Unterdrückung und Schmerz ist aus den tiefen Höhlen der Vergesslichkeit hochgefahren und inmitten von Baustellen aufgerissenen Stadt dergestalt bedrückend wiederbelebt worden, dass man nach neun Mal 80 Minuten Augsburger Welttheater beinahe versucht ist zu sagen, dass die verzerrte Musik nicht weiter gestört hat.
Votteler ist eine einzigartige Kooperationsmatrix gelungen
Die Zuhörer und Zuseher in Augsburg besuchten keine mit dem Publikum eingespielte Illusionsvereinbarung, die man aus der gesicherten Distanzachse vom Parkett aus mit mehr oder weniger Vergnügen zu bewältigen hat, sondern eine Zumutung im besten Sinn der Kunst. Eine Handvoll Aktivisten, die unter dem Label „Grandhotel“ einen tiefen Pflock der Empathie in die Stadt getrieben haben, eine Sina Trinkwalder, die mit einem Schuss Wahnsinn ein neues Textilunternehmen mit 150 Arbeitsplätzen aus der Augsburger Erde gestampft hat, eine ehemalige Gasfabrik, die von den Stadtwerken als lokales Kreativ-Quartier feilgeboten wird, ein FCA, der heuer in einer europäischen Spitzenliga auf Augenhöhe mitspielt: Es ist so, als hätte unser Städtchen seine verschwundene Bedeutung einem Wurmloch entrissen und neu angelegt. Und nun auch noch das Theater!
Mit ihrem umfangreichen Zusatzprogramm zu Intolleranza hat Intendantin Juliane Votteler tatsächlich eingelöst, wovon sie immer geträumt hat, nämlich „ihr“ Haus mit den kleinen und wirkungsvollen Playern der Augsburger Kulturszene aufzuladen und in Zusammenarbeit mit den Dramaturgen und dem Regie-Stab des Stadttheaters zu einem funktionierenden Ganzen zu bilden, zu einer Kooperation-Matrix, die in die Stadt eine neue und vitalere Kommunikationslust und Debattenkultur hineinarbeitet. Die Stadttheater-Idee lebt davon, dass sich das Theater zum Anstiften anstiften lässt. Mit Luigi Nonos „Intolleranza 1960“ ist Votteler und ihrem Team eine qualitativ hochwertige Musiktheaterinszenierung gelungen. Wichtiger als der künstlerische Erfolg ist aber die Wiederbelebung eines Stadttheater-Konzepts. Es sieht derzeit so aus, als wäre Votteler von dieser Idee beseelt. Dem Theater und der Stadt wäre zu wünschen, dass „Intolleranza 1960“ mehr gebracht hat als „nur“ ein schnell vorübergehendes Fest im deutschen Blätterwald.