Innenstadt versus Textilviertel – Die lange Brechtnacht 2018 – Ein Nachtrag
Am vergangenen Samstag, den 24. Februar, fand die “Lange Brechtnacht” statt. Ein Konzert- und Performance-Format, kuratiert von Girisha Fernando, das an verschiedenen Orten zeitgleich zahlreiche Künstler präsentiert – im Rahmen des Augsburger Brechtfestivals. Bei sibirischen Temperaturen galt es gleich zu Beginn, sich für eine der beiden Austragungsorte zu entscheiden: Innenstadt oder Textilviertel. Dass die eher progressiven Bands im TIM und im Provino Club auftraten, könnte eine Erklärung dafür sein, dass die Innenstadt am Samstagabend – auch angesichts der eisigen Temperaturen – wie leergefegt wirkte und die Besucherfrequenz in den Innenstadtlokalitäten nur mühsam in Schwung kam.
Von Andrea Huber und Johannes Meyer
Es sprach sich schnell herum, Martin Kohlstedt aus Thüringen ist ein echtes Erlebnis. Er macht Musik für Computerspiele und Imagefilme und spielt auf Festivals. Seine Stücke sind nie abgeschlossen, sondern entwickeln sich bei jedem Live-Auftritt weiter. Mit der Kombination aus Flügel und Synthesizern, die er mit weit ausgebreiteten Armen meist gleichzeitig bediente, bot er zusammen mit der Lichtshow ein echtes Spektakel. Leider war die Brechtbühne beim Wiederholungstermin nur halb gefüllt.
Das Weiße Lamm mit „Same Old Song“ füllte sich erst im Laufe der Veranstaltung, die Wiederholung war nur noch mäßig besucht. Die Stimmung im Publikum war gut und der Lokalität angepasst locker. Moderator und Sänger John Richard Jones (JJ Jones) gehört zu den „Hiergebliebenen“ der Stipendiaten des Künstlerhauses Villa Waldberta in München, die seither die hiesige Kultur- und Kunstszene bereichern. JJ Jones hatte 2013 in der Villa Waldberta die Idee für ein neues Veranstaltungsformat, bei dem einen ganzen Abend lang nur ein einziges Lied aus der Pop- und Rockgeschichte gespielt und von ihm moderiert wird: „Same Old Song“.
In Augsburg deutete das halbnackte Outfit des amerikanischen Sängers als Riesen-Baby in Plastik-Windel und mit Häubchen auf eine skurile Show hin. Verschiedene Interpreten aus München und Augsburg präsentierten live ihre unterschiedlichen Versionen des Songs „The Winner takes it all“ von ABBA – vom eigens für die Brechtnacht arrangierten Drehorgelstück mit aufwändig gestanzter Papierrolle bis zur Gameboy-Version: Schräge eineinhalb Stunden, deren Qualität aber mit der Zeit abfiel, nicht zuletzt aufgrund der etwas langatmigen Moderation, die den anfänglichen Witz nicht halten konnte.
Liann, SingerSongwriter mit Band – auch aus München, wartete in der Soho Stage noch auf weitere Besucher, entschied sich dann aber zu einem Start mit gerade mal an die 15 Zuhörern. Nachdenkliche deutsche Texte, behutsame Musik und sogar zwei Songs extra zum Brechtfestivalmotto! Entdeckt wurde Liann beim SongSlam 2016 in Augsburg.
Ganz anders im Mephisto mit dem amerikanischen Sänger Daniel Kahn & The Painted Bird aus Berlin, die in klassischer Klezmerbesetzung eine mitreißende Mischung aus Klezmer, Folk und Punk boten. Einige aus dem Publikum sind gleich aus der ersten Vorstellung dageblieben, beste Stimmung sorgte für Tanz in den Seitengängen. Trotz offensichtlicher Erschöpftheit der Musiker nach zwei Konzerten am Stück begeisterte die Band noch nach Mitternacht mit mehreren Zugaben. Zum Schluss das Halleluja von Leonhard Cohen in einer schlichten jiddischen Interpretation von Daniel Kahn mit Sologitarre, das Publikum summte ergriffen mit.
Im Textil- und Industriemuseum (TIM) und im Provino Club direkt nebenan spielten über den Abend verteilt insgesamt sechs Bands.
Den eher ruhigen Anfang im TIM machte die Gruppe Wallis Bird um die gleichnamige Sängerin mit ihren MusikerInnen. Über den vor allem akustischen Klängen der Band, die in unterschiedlichen Stücken zwischen Blues, Pop und irischem Folk wandelten, baute die Frontfrau Wallis Bird ihre volle Stimme auf, um das noch ein wenig gefrorene Publikum aufzuwärmen. Schade war dabei, dass die langgezogene Halle des TIM noch nicht ganz gefüllt war und dass die sehr fulminante Anlage für ihre Stimme zu groß geraten schien. Aber insgesamt war es ein Anfang zum Wohlfühlen, der dem leider recht einheitlichen Publikum den Einstig in die lange Brechtnacht erleichtern sollte.
Beinahe zeitgleich startete im Provino Club – nur wenige hundert Meter vom TIM entfernt – der Konzertabend mit dem Musiker Albrecht Schrader. Und wenngleich der Ort Provino Club in gewisser Weise einen Gegenpol zum eher sterilen und weitläufigen TIM darstellt, waren auch dort beim ersten Konzert eher ruhige Töne zu hören. Der Hamburger sang seine leicht kühlen und melancholischen aber auch scharfsinnigen und ironischen Texte und begleitete sich dabei selbst mit jazzigen Melodien auf dem Klavier. Der Auftritt des aus der Sendung Neo Magazin Royal bekannten Albrecht Schrader kam bei den Gästen des Provino sehr gut an. Auch präsentierte er Textfragmente wie einen fiktiven Lebenslauf des in den 1950ern in Remscheid geborenen Bert Brecht, dessen Mutter auf den Namen Courage höre und dessen bester Freund ein netter Kerl aus der spanischen Stadt Sezuan sei. Man konnte beinahe den Eindruck gewinnen, er wollte irgendetwas erzählen und dabei möglichst oft den Namen Bert Brecht benutzen. Und das ausgerechnet in der Augsburger ‘Langen Brechtnacht’!
Wieder zurück im TIM spielte ab 21:30 Uhr die Band Algiers aus Atlanta. Die um den Sänger und Keyboarder Franklin James Fisher zusammengestellte Gruppe präsentierte ein hervorragendes Konzert mit Musik aus einer Mischung von Post-Punk und psychodelischem Blues Rock mit vielen elektronischen Einflüssen. Mit ihren langen und ins Ekstatische laufenden Stücken brachten sie nicht nur das Publikum zum tanzen, sondern sollten auch einen musikalischen Höhepunkt des Abends darstellen. Sie waren gut, sie waren laut und die Gäste drängten sich zum Tanzen in den vordersten Reihen.
Zur selben Zeit begann die Gruppe Locas in Love ihren Auftritt im Provino Club. Und wie es der Sänger Björn Sonnenberg auf der Bühne ganz treffend formulierte, fühlte sich das für die Kölner Gruppe wie ein Heimspiel an. Die Band lieferte klassischen Indi-Pop und erinnerte dabei nicht selten an die Augsburger Band Anajo, mit der sie personelle Überschneidungen und auch gemeinsame Tourneen verbindet. Das Publikum im mittlerweile voll gewordenen Provino Club schien von den deutschsprachigen Texten und den sehr guten Musikern jedenfalls dermaßen überzeugt, dass die Band insgesamt sechs (!) Zugaben spielen musste. Gegen Ende des Konzerts bildete sich am Eingang des Clubs zum ersten Mal eine Warteschlange, weil die maximale Anzahl an Gästen im Club erreicht war.
Im TIM kam es dann um 23 Uhr zum geplanten Mainact des Abends: Die Antilopen Gang aus Aachen und Düsseldorf sollte die Halle für kurze Zeit in einen Hip-Hop-Club verwandeln und dabei auch die große Soundanlage für sehr dicke Bässe nutzen. Mit ihren teilweise sehr politischen Texten und durch ihr Engagement gegen Rassismus und für Menschenrechte wurde die Gruppe nicht nur Trägerin des Amadeu-Antonio-Preises, sondern kann zu den politischeren Gästen bei der Brechtnacht gezählt werden. Auch intellektuellen und/oder politischen Themen widmet sich die Band mit althergebrachtem, sehr lautem Gangster-Rap, was teilweise auch absurde, komische Züge annimmt. Mit ihrem energiereichen Bühnenauftritt brachten sie gestern im TIM so viele Leute zum tanzen, dass sich es das Ende des Abends dann doch noch ein wenig nach Party anfühlte.
Den Höhepunkt des Abends auf der Bühne im Provino Club sollte das Duo Eclecta aus der Schweiz liefern. Die zwei Bandmitglieder Andriana Bollinger und Marena Whitcher standen in auffällig glitzernden Outfits umringt von vielen Instrumenten auf der Bühne und boten einen sehr choreographierten Auftritt. Zu jedem Stück veränderten sie die Zusammensetzung der Instrumente. Heraus kam dabei eine sehr interessante und experimentelle Art von Indi-Musik mit Einflüssen des Jazz. Die englischen Texte wurden wahlweise gesungen oder gesprochen, wobei sie auch eigene Adaptionen von Stücken aus Opern Bert Brechts präsentierten. Auch weil die Band erst mit etwas Verspätung anfangen konnte und die Konzerte im TIM daher schon zu Ende gingen, füllte sich der Provino Club zu dieser Zeit sehr schnell und konnte dann länger keine Gäste mehr aufnehmen. Der Übergang von der letzten Band des Abends in die Aftershow-Party verlief fließend.
Insgesamt war die Lange Brechtnacht im Textilviertel ein schöner Abend. Die Bands überraschten teilweise sehr positiv (Algiers), andere wirkten aber auch irgendwie zu groß und zu aufgeblasen für den Abend (Antilopengang). Und es bleibt natürlich die Frage: Was hat das alles mit Bert Brecht zu tun? Solidarität oder Egoismus? Die Lange Brechtnacht blieb die Antwort schuldig. Im TIM war die Stimmung irgendwie eigenartig, was wahrscheinlich an den weitläufigen Räumlichkeiten lag, aber auch an der Zusammensetzung des Publikums, das auch aus vielen Kulturschaffenden bestand.
Im Provino Club war zumindest die Stimmung viel gelöster, was wohl an der höheren Gemütlichkeit des Ortes, aber auch an dem jüngeren und lockeren Publikum gelegen hat. Allerdings war die dortige Musikauswahl vielleicht zu sehr auf Indi-Musik ausgerichtet. Und der rote Faden, der sich anhand des Titels Lange Brechtnacht 2018 vermuten lassen könnte, war auch hier nicht auf den ersten Blick erkennbar.
Im Einleitungstext zur Brechtnacht (Programmheft) wird der Zusammenhang zu B.B. wie folgt dargestellt:
“Im grenzüberschreitenden Geiste Brechts schafft die Brechtnacht eine Plattform für innovative, genreübergreifende musikalische Aktivitäten. Zwischen progressiver, ambitionierter Popmusik, Avantgarde und interdisziplinärer Kunst präsentiert sie internationale wie nationale Künstler*innen aus unterschiedlichsten Stilistiken. Die Brechtnacht steht für Musik, die etwas bedeuten will, die Fragen stellt und Antworten sucht. Wem gehört die Welt? Wohin geht die Kunst? Brecht wusste die Macht der Musik als dramaturgisches Mittel und als Vehikel für seine Inhalte zu nutzen.” ….. “Die Lange Brechtnacht ist eine musikalische Echokammer auf die Themen der Zeit und auf das diesjährige Festival-Leitmotiv „Egoismus vs Solidarität“.
—– Andrea Huber (Innenstadt), Johannes Meyer (Textilviertel).