MEINUNG
Im Jahr des Tigers: 2020 und die Botschaft der Apokalypse
Könnte das Jahr 2020 einen Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit bedeuten? Möglich wäre es immerhin.
Kommentar von Siegfried Zagler
Der Leitartikel-Satz, dass nach einem Schreckensereignis, nach einer Katastrophe nichts mehr so sein wird wie zuvor, ist überstrapaziert und selten zutreffend. Doch für den Ausbruch der Corona-Pandemie gilt er vollumfänglich, weshalb das Abfackeln von Silvester-Feuerwerkszeug in der Stadt Augsburg (ob auf Privatgrund oder im öffentlichen Raum soll in diesem Zusammenhang keine Rolle spielen) zu einer Art 15-minütigen Asozialen-Show wurde, die vor allem eins offenbarte: Trotzköpfigkeit und Asozialität sind selbstverständlich nicht nur Privilegien der Unterprivilegierten.
Das Cornavirus ist in Deutschland zum Jahresende und zu Beginn der Impfperiode auf dem Höhepunkt seiner Verbreitung angekommen. Das Infektionsgeschehen ist unvermindert hoch, Tausende Menschen sind gestorben, kämpfen ums Überleben oder mit den Spätfolgen der Corona-Infektion. Wer in dieser Situation sich darum sorgt, ob er zu Hause böllern darf oder nicht, dem ist nicht mehr zu helfen.
Nicht nur die Grünen sind längst davon überzeugt, dass es in Sachen Klimapolitik zielführend wäre, würde man am Feuerwerksverbot zu Silvester in allen Städten festhalten, und zwar in den nächsten 1000 Jahren unabhängig von Corona und anderen möglichen Katastrophen, die uns hoffentlich nicht heimsuchen werden, sondern einfach aus Vernunft.
Wer zum angenehm ruhigen Jahreswechsel auf 2020 zurückblickt, hat nicht viel mehr als zwei Sachverhalte zu konstatieren. Nämlich, dass der “Tanz mit dem Tiger” (Christian Drosten) nach dem ersten Lockdown zu einer Katastrophe mit biblischen Ausmaßen führte.
Festzuhalten ist demnach in diesem Zusammenhang, dass der zweite Lockdown zu spät erfolgte und zu halbherzig ausgeführt wurde. Dies ist auf ein bisher unvorstellbares Staatsversagen zurückzuführen, das bei der Kanzlerin beginnt und über die Landesfürsten bis hinein in die kleinsten Amtsstuben reicht. Die Abwesenheit von Verstand, Verantwortung und Weitsicht sind schwer bestraft worden. Tausende hätten nicht an Corona sterben müssen, hätte die Politik den Sommer dafür verwendet, das Land professionell gegen die zweite Welle der Pandemie zu wappnen. Dass das nicht geschehen ist, ist unverzeihlich.
Und zum Zweiten ist nach der US-Präsidentenwahl im November festzuhalten, dass man möglichweise die Ära Trump als einen einmaligen Unfall der US-amerikanischen Geschichte zu bewerten hat, falls sich der Verfall der rechtsstaatlichen Werte und die Radikalisierung des rechten Spektrums in der US-Gesellschaft nicht verfestigt haben sollten. “Trumpismus” war und ist die Replik auf das Versagen der amerikanischen Eliten, die sich in der Kunst der Geldvermehrung verloren, statt an politischen Konzepten zu arbeiten, die Armut und Bildungsferne bekämpfen, wovon jeder zweite Amerikaner betroffen ist.
“Donald Trump ist ungebildet, unflätig und unfähig” schrieb der ehemalige Mitherausgeber der ZEIT Theo Sommer, der nicht nur zur deutschsprachigen Journalistenelite zählt, sondern mit seinen 90 Jahren sehr staatsmännisch und zurückhaltend formuliert.
Weder Trump noch die Coronapandemie sind Naturkatastrophen aus dem Nichts, sondern Katastrophen, denen menschliches Versagen vorausging. Weltumspannende Kapitalvernetzungen, der an Handelsprofiten orientierte Globalisierungsprozess sowie ein völlig aus dem Ruder gelaufener asozialer Hedonismus quer durch alle Kulturen und Kontinente haben unsere Welt zu einem unsicheren Ort gemacht, wo sich Viren über Superspreader beinahe so schnell verbreiten wie die menschliche Dummheit über soziale Netzwerke.
SARS-CoV-2 wird uns Erdenbürger in der Hauptsache auch im kommenden Jahr beschäftigen. Doch immerhin: Die Annahme, dass dieses Virus Ende 2021 ausgerottet ist, ist keine Utopie, sondern ein Hoffnungsschimmer, der sich mit dem Beginn der Impfungen am Horizont abzeichnet.
Nachdem die Menschheit von einer apokalyptischen Bedrohung schwer getroffen wurde und dafür einen Ausweg zu finden scheint, darf man das Jahr 2021 verhalten optimistisch begrüßen, ganz ohne Geschrei und Geböller, aber mit Demut und dem unbescheidenen Vorhaben, die Erde wieder zu einem zukunftsfähigen Ort zu machen.