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Freitag, 30.08.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

Horrortrip mit sägendem Bass

Brechtfestival: Thomas Thieme spielte den Baal als One-Man-Show

Von Frank Heindl

Am Anfang war dieser Baal ein Wagnis, am Ende ein Ereignis. In der Mitte allerdings hatte er auch seine Schwächen. Thomas Thieme, gefeierter Schauspieler und Baal-Kenner aus mehrfacher Perspektive, brachte am Sonntagabend seine Version von Brechts gewalthaft-gewaltigem Jugendstück – 1918 entstand die erste Fassung, 1923 war die Uraufführung – auf die Bühne des Augsburg Theaters: im Grunde als One-Man-Show, in seinen Worten als „konzertante Aufführung“.

Opulentes Spiel, gewonnenes Wagnis: Thomas Thieme spielte den Baal in seiner eigenen Inszenierung (Foto: Nikolai Eberth).

Opulentes Spiel, gewonnenes Wagnis: Thomas Thieme spielte den Baal in seiner eigenen Inszenierung (Foto: Nikolai Eberth).


Ein wenig atemlos kam Thieme schon vor dem eigentlichen Beginn auf die Bühne – nicht als Baal, sondern als Thieme. Es gelte, ein paar Dinge vorab zu klären, man dürfe ihn sich nun als „lebendiges Programmheft“ vorstellen. In einer anfangs stockend-unsicheren Einführung in sein Vorhaben entfaltete er anschließend binnen kurzer Zeit ein von Humor und Selbstironie gekennzeichnetes Charisma, dem schlichtweg nicht zu widerstehen war. So erfuhr man von dem 64jährigen, der den „Baal“ nicht nur gespielt, sondern auch als Regisseur inszeniert hat, dass es in seinen Augen nicht wichtig sei, bei seiner anschließenden Darbietung stets zu wissen, welche Figur er gerade interpretiere. Er sei nun mal quasi allein auf der Bühne, nun gelte es, „aus der Not ‘ne Tugend zu machen.“ Das Wagnis konnte beginnen:

Ganz allein ist Thomas Thieme dann doch nicht. Zum eigentlichen Beginn betritt zunächst sein Sohn Arthur die Bühne mit einem Elektrobass, dessen musikalische Bandbreite er zunächst von rhythmisch bis lyrisch aufscheinen lässt. Dann ist Thieme Vater wieder da, lässt sich zunächst von der Musik tragen, segelt, Flügelschlag und Vogelflug nachahmend, langsam zu einem der beiden Mikrofone, die die einzige Ausstattung der Bühne bilden. Und beginnt mit dem Vortrag dessen, was er sich selbst aus allen von Brecht abgelieferten Versionen des „Baal“ zusammengeschustert hat: Baals Entwicklung vom lyrisch gestimmten Genussmenschen, vom dichtenden rücksichtslosen Berserker und Frauenvertilger zum Mörder und schließlich zum weinerlichen Stückchen Elend, das verlottert und versoffen im Wald verreckt – eine Höllenfahrt.

Zuckungen unter den Hieben des E-Basses

In der Tat verliert man oft den Durchblick, wer nun gerade spricht, und daran ist nicht nur Thiemes Weigerung schuld, den Personen wechselnde, besser identifizierbare Stimmen zu verleihen. Sondern auch Thiemes Gebaren auf der Bühne, die fesselnde Art, wie er in seine wechselnden Rollen geradezu hineinstürzt, wie er in ihnen versinkt. Mitunter scheint er wie aus einem Alptraum zu erwachen, bevor er in eine neue Rolle schlüpft, immer wieder hält er an Stellen großer Erregung seinen Kopf mit beiden Händen umfasst, presst ihn zusammen, als wolle er ihn so am Platzen hindern. Kein Wunder – spielen sich doch in diesem Hirn mehrere Dramen parallel ab, werden Mörder und Ermordete lebendig, verrottet eine Ertrunkene als „Aas in Flüssen mit vielem Aas“. Dazu zuckt der Schauspieler mit den Beinen im Rhythmus der Hiebe des Basses – nicht aus Lust an der Musik, eher in Krämpfen.

Man erliegt der Opulenz von Thiemes Spiel

Das sind die Momente, wo der Zuschauer im schwierigen Text-Konglomerat gelegentlich den Faden verliert, wo es anstrengend wird, der Handlung zu folgen. Konzertant ist diese Vorführung nämlich eben gerade nicht: Wo sich die Sänger bei konzertanten Opernvorführungen ganz auf Musik und Gesang konzentrieren und dem Zuschauer (fast) nichts entgeht, wenn er die Augen schließt, da ist hier das Gegenteil der Fall. Obwohl ein Bühnenbild fehlt, keine Kostüme und keine Personal ablenkt, erliegt man der Opulenz von Thiemes Spiel, behält weniger Zusammenhänge als Szenen im Gedächtnis: Hat man die Liebe, die körperliche wie die seelische, jemals so eindrücklich und bewegend geschildert bekommen wie im Brecht/Thiemeschen Bild von den beiden Bäumen, deren Wurzeln ineinander gewachsen sind, sodass nicht mehr zwischen Umarmung und Gefangensein zu unterscheiden ist? Das ist Expressionismus pur – und der Textzusammenhang geht darin unter.

Um sich trotzdem von diesem Bühnenexperiment überzeugen zu lassen, genügt es allerdings, sich auf Thiemes Verkörperung des Baal zu konzentrieren. Wie der unwiderstehliche Verführer an Kraft verliert, je wilder er seine Untugenden auslebt, wie er als ein Häufchen Elend bei seiner gequälten Mutter keinen Trost findet und wenig später wie ein sturzbesoffener, in seiner Widerwärtigkeit schwer zu bemitleidender Penner brüllend seinem Ende entgegen deliriert – da ist Thiemes Baal dann ein Horrortrip mit sägendem Bass im Hintergrund, ein Alptraum in Wahnsinn und Raserei. Und da ist aus dem Wagnis ein seltenes Theaterereignis geworden, das lange in Erinnerung bleiben wird.