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Donnerstag, 18.04.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

“Cabaret” auf Freilichtbühne: Dekonstruktion eines Musicals

„Cabaret“ kann auf der Augsburger Freilichtbühne nicht überzeugen

Von Frank Heindl

Theaterskandal? Zensur? Man sieht der „Cabaret“-Inszenierung auf der Freilichtbühne an, dass sie anders ist als die Stücke der Vorjahre – auf besondere Unruhen im Vorfeld der Premiere hätte man daraus wohl nicht geschlossen. Aber nun ist es eben bekannt geworden, dass Theater Augsburg und Regisseur John Dew sich kurz vor dem Start im Unfrieden getrennt hatten. Und nun würde man doch gerne wissen – und dann bewerten –, welche Fassung man gesehen hat: was davon Dew ist und was andere zu verantworten haben.

Um es gleich vorweg zu sagen: Das 1966 uraufgeführte Stück mit seiner zwischen Cabaret-Bühne und dem „wirklich Leben“ im Berlin der späten 20er-, frühen 30er-Jahre hin und her flirrenden Handlung entfaltet nicht die mitreißende Wirkung früherer Freilichtbühnen-Stücke. Und weil das so ist, und weil man gehört hat, John Dew habe der Theaterleitung zu „kammerspielmäßig“ inszeniert, sitzt man nun natürlich befangen und nicht wirklich entspannt im Theaterrund und grübelt: Bei den „Blues Brothers“ (2015) gab’s jede Menge Spaß und Klamauk. „My Fair Lady“ (2014) war ein ebenso harmloser wie vergnüglicher Musical-Klassiker. „Hair“ (2013) hatte mit dem Vietnam-Krieg einen bedrohlichen Background, aber der war immerhin weit weg von hier.

Mit „Cabaret“ ist das anders: Das Stück erzählt die Geschichte des amerikanischen Schriftstellers Clifford Bradshaw, der sich in Berlin in die Cabaret-Sängerin Sally Bowles verliebt und mit ihr nicht nur das „dekadente Berliner Nachtleben“, sondern auch Antisemitismus und das Heraufziehen der Nazizeit kennenlernt. Zum Stück gehören die Sturmtruppen der SA, gehört das antijüdische Pogrom. Zur Auswahl des Stückes gehört also auch das Wissen, dass das Publikum mit hässlichster deutscher Geschichte konfrontiert wird, dass Hakenkreuzfahnen, mit Parolen beschmierte Scheiben jüdischer Einzelhändler, in der Konsequenz sogar Krieg, Gaskammer und Holocaust assoziiert werden. Und dass, wer John Dew engagiert, damit rechnen muss, dass assoziative Bilder auch an zentraler Stelle gezeigt werden.

Dem unsichtbaren Orchester fehlt es an Präsenz

Es hat schon zu regnen aufgehört, als Juliane Votteler den Beginn mit kleiner Verzögerung ankündigt – die Intendantin wird mit warmem Applaus empfangen. Und dann beginnt das Intro mit einem Sound, der ein bisschen dumpf und abgenudelt klingt. Wo ist das Orchester? – Ach ja: in einem Zelt, irgendwo hinter der Bühne. Das Publikum hört sozusagen nicht live, sondern über Lautsprecher, der Klang ist dumpf, es fehlt an Kraft und Druck und Präsenz – Schade! Musikalisch kann das Ensemble leider auch im Weiteren nicht immer befriedigen: Sabastian Baumgart als Clifford Bradshaw hat stimmlich deutliche Probleme, sogar Veronika Hörmann als Sally Bowles klingt gegen Ende – und also genau dann, als es drauf ankäme – gebremst und nicht ausreichend präsent.

Clifford Bradshaw (Sebastian Baumgart) und Sally Bowles (Veronika Hörmann) – eine junge Liebe, die bald scheitern wird.

Clifford Bradshaw (Sebastian Baumgart) und Sally Bowles (Veronika Hörmann) – eine junge Liebe, die bald scheitern wird.


Doch das ist nicht das wichtigste Manko der Aufführung. Vor allem krankt es am Zusammenhalt der Szenen. Und da mag John Dews Konzept zur Geltung kommen: Was das Publikum erlebt, ist mehr eine Nummernshow als ein zusammenhängendes Ganzes, man hört und sieht Einzelszenen, die sich selten eng miteinander verweben. Das mag auch am Bühnenbild liegen: Die ganze große Breite der Freilichtbühne wird von einer quer zum Publikum stehenden Zimmerflucht eingenommen, neun Türen führen nach hinten, und aus einigen dieser Türen werden wechselnde Szenenbilder nach vorne gefahren. Das funktioniert schnell und reibungslos: das Zugabteil, in dem Clifford nach Deutschland kommt, die Showbühne des Kit-Kat-Klubs, in dem Sally Bowles arbeitet, das Pensionszimmer, das Cliff und Sally bald gemeinsam bewohnen, erscheinen präzise aus dem Hintergrund – aber so wirkt jede neue Szene deutlich von der vorherigen abgesetzt, jede eröffnet ein neues Kapitel. “Cabaret” wird ein Ganzes, wenn klar wird, dass die Show der Girls die Welt ihres Publikums widerspiegelt – doch dieser Zusammenhang geht auf der Freilichtbühne verloren. Irgendwie isoliert bleibt so auch die Szene im Gemüseladen von Herrn Schulz (Hans B. Goetzfried), der sich in Cliffs Zimmerwirtin Fräulein Schneider (Gundula Hintz) verliebt hat. Diese beiden sind merkwürdigerweise der emotionale Dreh- und Angelpunkt der Inszenierung – ihr Schicksal ist wesentlich präsenter, deutlicher, nachfühlbarer  als das von Sally und Cliff.



Ein alterndes Paar wird zum emotionalen Angelpunkt


Denn während es bei den Jungen um Erfolg, Karriere, Zukunft geht, während Sally abtreibt, um Showgirl in Berlin bleiben zu können, und Cliff am Ende, ernüchtert von Nazideutschland, enttäuscht abreist, während das Girls-Ballett aus Männern und Frauen sein Bestes gibt und die Maske Affen und die Musik tolle Songs auf die Bühne wirft – währenddessen sind Schulze und Schneider das eigentliche romantische Paar des Stücks. Diese beiden älteren Herrschaften müssen am Leben verzweifeln – er ist Jude und sie mag ihn nicht mehr heiraten, als sie erkennt, welche Gefahren von solch einer Verbindung drohen: Nazikrawalle haben schon die Verlobungsparty gestört, wie soll sie denn noch die Kraft aufbringen, um so eine Liebe aufrecht zu erhalten? Das wirkt gar nicht egoistisch, sondern erschreckend nachvollziehbar: Wie der Faschismus da den späten Frühling zweier einsamer Menschen zerstört, die zu alt sind, um sich einer übermächtigen Entwicklung entgegenzustellen. So fröhlich, so sympathisch, so Berliner Original, so frech und selbstbewusst hat die Regie dieses Fräulein Schneider eingeführt, und nun muss sie vor einem Schicksal kapitulieren, das sie überfordert. Das war wunderbar inszeniert, das war toll gespielt, das ging zu Herzen!

Geradezu bedrohlich wirkt dann der Theaterchor, der pathetischste Song des Abends ist eine Hymne, die nur anfangs vom Grasen der Hirsche im deutschen Wald handelt (zwei Domsingknaben singen das verzückte Intro), dann aber den „morgigen Tag“ ankündigt und dass die Welt uns hören wird – eine Massenszene, die unter die Haut geht und nach der das Emporrecken der rechten Arme und das Hissen der Hakenkreuzfahnen gar nicht mehr nötig gewesen wäre – man hat verstanden, was es bedeuten kann, wenn Deutsche singen, man weiß, in welche Katastrophe das münden wird.

Am Schluss Sirenen – auf Wiedersehen im Krieg

Fräulein Schneider und Herr Schulz – die Liebe zweier alternder Menschen wird vom Faschismus zerstört. Wunderbar gespielt von Gundula Hintz und Thomas Mehnert (Fotos: Nik Schölzel).


Die Showgirls tanzen trotzdem weiter, ja, so war das natürlich, aber damals wussten sie noch nicht so genau wie wir Heutigen, was kommen würde. Vielleicht zündet das Stück deshalb als Musical nicht: Vielleicht ist der Stoff zu schwer, vielleicht wissen wir genug, um uns hierbei nicht mehr amüsieren zu wollen, vielleicht war es vermessen, dem Publikum eine solche Geschichte als Sommerunterhaltung unterjubeln zu wollen. So bekommt „Cabaret“ nun eine neue, lehrreiche Pointe: Während die im Stück die Augen verschließen vor dem, was kommt, und einfach weiter „Cabaret“ machen, wissen wir da unten sehr genau, was dann kam, und können  womöglich gerade deshalb nicht den vollen Gefallen finden an diesem Cabaret. Wenn das der Plan war, egal ob von John Dew oder der Theaterleitung, dann ist dies die hinterlistige Dekonstruktion nicht nur eines Musicals, sondern auch unserer Publikumsrolle. “Cabaret” demonstrierte auf der Freilichtbühne, dass das Amusement seine Grenzen hat und deshalb die Rechnung des Publikums nicht aufgehen kann: Dass wir mehr wissen als die auf der Bühne, bringt uns keinen Vorteil, sondern verdirbt uns den Spaß. Nur zu passend also, dass die Show ihr Publikum mit einem Hexengebräu aus den gerade gesehenen Szenen, aus Rauchschwaden, aus verstimmtem „Welcome“-Gesang, aus Walzer, aus einer zwanghaften und verkrampften Fröhlichkeit mit Lichtblitzen und Luftschutzsirenen in die Nacht entlässt, bye-bye, auf Wiedersehen, à bientôt – im Krieg. Ein starker Schluss, das auf jeden Fall.