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Dienstag, 23.07.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

Hinter tausend Schleiern keine Wahrheit

Fesselnde Premiere in der Brechtbühne: Ursprung der Welt

Von Frank Heindl

Vielschichtig, hochproblematisch, komplex schon in der Anlage – „Ursprung der Welt“ feierte am Samstag Premiere in der Brechtbühne und sorgte anschließend im Publikum für kontroverse Diskussionen. Das dürfte der Zweck der Inszenierung gewesen sein: Das Stück heizt die Auseinandersetzung darüber, wie mit dem Islam und seinen Schattierungen hierzulande umgegangen werden soll, an, ohne auch nur den Schatten einer Lösung anzubieten.

Hippster im Werebemilieu: Alexander Darkow als Gyges (links), Ulrich Rechenbach als Kandaules, im Hintergrund Clara-Marie Pazzini als Assistentin Sarah.

Hippster im Werbemilieu: Alexander Darkow als Gyges (links), Ulrich Rechenbach als Kandaules, im Hintergrund Clara-Marie Pazzini als Assistentin Sarah.


Die Probleme beginnen schon mit der Autorenschaft des Stücks: Den „Verfasser“ Soeren Voima gibt es nicht, hinter dem Pseudonym verbirgt sich manchmal ein Autorenkollektiv, manchmal auch einfach der Theaterregisseur Christian Tschirner. Als nächstes ist dann der Titel zu klären: „Ursprung der Welt“ – das ist ein 1866 geschaffenes Gemälde des Franzosen Gustave Courbet. Es zeigt in naturalistischer Darstellung das unverhüllte Geschlecht einer Frau und wurde von einem Muslim in Auftrag gegeben, von dem Voimas Text behauptet, er habe es unter einem grünen Schleier verborgen „wie seine Glaubensbrüder den Koran.“ Der Ursprung der Welt also nicht die Schöpfung des Gottes welcher Religion auch immer – sondern der weibliche Schoß? Verhüllung und Entblößung, Schöpfung und Sexualität werden so zum ständigen Subtext von Voimas Stück.

Der Stoff stammt von Herodot

Dieses geht auf eine sehr alte Geschichte zurück, die erstmals im fünften vorchristlichen Jahrhundert von dem Historiker Herodot niedergeschrieben wurde. Die Namen von Herodots Protagonisten hat Voima beibehalten: Gyges und Kandaules. Doch worum es in dieser Geschichte geht, ist schwer zu erzählen, weil mythologische Überlieferungen kaum ohne Kontext, ohne Betrachtung ihrer moralischen, mystischen, historischen und psychologischen Dimensionen wiedergegeben werden können. Es geht ums Sehen und Gesehen werden, es geht um Freundschaft und Liebe, Rache und Tod, um tradierte Sittengesetze und deren Übertretung.

Voima hievt diese Story in die Gegenwart: Gyges und Kandaules betreiben eine Werbeagentur in Deutschland, Kandaules ist ein hier aufgewachsener, voll integrierter Muslim mit deutschem Pass. Während die Agentur an einer Werbekampagne arbeitet, die dem Islam hierzulande ein besseres Image verschaffen soll, reist Kandaules anlässlich einer Beerdigung in seine Heimat und kommt wenige Tage später verheiratet zurück – mit einer Frau, der er schon vor zwanzig Jahren „versprochen“ wurde und die vollverschleiert auftritt. Für Gyges, seine Assistentin Sarah und deren „aufgeklärtes“ Selbstverständnis ist das eine Katastrophe.

Die Burka – ein „Kartoffelsack“

Die verschleierte Frau vor Augen, rattern vor allem bei Sarah alle verfügbaren Vorurteile inklusive rücksichtsloser Islambeleidigungen herunter. Ein „orientalischer Kleiderständer“ wird die Muslima genannt, die Burka wird mal als „bescheuerte Verpackung“, mal als „Kartoffelsack“ bezeichnet, Sarah definierte sie ganz im Sinne von Islamkritikern als „die Auslöschung des Antlitzes, die Vernichtung des Gesichts, das Neutralisieren der Persönlichkeit.“

In den Hintergrund gerät dabei der Anlass der Heirat: Denn Kandaules hat Nyssia nicht zwangsweise, sondern aus Liebe geheiratet, und er beschreibt die Symptome seiner Verliebtheit ganz so, wie das auch ein „aufgeklärter“ Europäer tun würde: „Deine Stimme wird hohl, dein Puls wird flattrig, Schweiß bricht aus, die Knie zittern wie beim Bergsteigen“ – allerdings mit einem wichtigen Unterschied: „du hast nur noch diesen einen Wunsch: ihr Gesicht sehn.“

In dem Versuch, Gyges seine Verliebtheit zu erklären, überredet Kandaules diesen, aus einem Versteck seine Frau zu betrachten, wenn diese den Schleier abnimmt – und verletzt damit seine Frau zutiefst, die die Intrige bemerkt. Nyssia fordert den Tod von Gyges, der sich nun ebenfalls in sie verliebt hat. Und als Kandaules sich weigert, überredet sie stattdessen Gyges, seinen muslimischen Freund zu töten – der willigt ohne zu zögern ein. Mit diesem Mord beginnt das Stück, unmittelbar auf den Schuss hört man in Ramin Anarakis Augsburger Inszenierung provokativ einen islamischen Gebetsruf, wie ihn traditionell der Muezzin vom Minarett ruft.

Ein ungeheures Chaos der Argumente

Nicht der Muslim begeht in Soeren Voimas Stück den Ehrenmord, sondern der aufgeklärte, areligiöse Deutsche. Im Hintergrund Lea Sophie Salfeld als die verschleierte Nyssia.

Nicht der Muslim begeht in Soeren Voimas Stück den Ehrenmord, sondern der aufgeklärte, areligiöse Deutsche. Im Hintergrund Lea Sophie Salfeld als die verschleierte Nyssia.


Argumentativ richtet das Stück ein ungeheures Durcheinander an: Ulrich Rechenbach als Kandaules ist ein hipper Werbemensch und alles andere als ein verbohrter religiöser Fanatiker, seine Verliebtheit und Heirat haben keinerlei religiöse Ursachen. Gyges (Alexander Darkow) ist ein ebensolcher Hippster – erfolgsverwöhnt, auf der Jagd nach Geld, aber auch besessen vom Sex, vorzugsweise mit jungen Assistentinnen. Assistentin Sarah (Clara-Marie Pazzini) liefert trotz und wegen ihrer vorurteilsbeladenen Naivität genau jene Argumente, die die Befürworter eines integrativen Umgangs mit dem Islam hören wollen – sie nähert sich der fremden Religion historisch, literarisch, künstlerisch, liest den Koran aufmerksam und differenziert. Nyssias unversöhnlicher islamischer Bruder Azad (Sebastian Baumgart), outet sich am Ende als Auftraggeber der proislamischen Werbekampagne, die das softe Bild der friedlichen Weltreligion vermitteln soll. Nyssia, die Frau unter dem Schleier (Lea Sophie Salfeld), übernimmt in ihrer Situation als gedemütigte Frau in höchst selbstbewusster Weise das Kommando, wenn es um Rache und Tod geht. Vor allem aber ist es nicht der Muslim Kandaules, sondern der areligiöse Gyges, der nach einem Anflug von religiöser Erweckung den finalen Ehrenmord begeht.

Wunderbar veranschaulicht wird dieses Chaos aus Argument und Vorurteil, aus Tradition und Moderne, aus sich verschiebenden Positionen und Blickwinkeln von Marc Bausbacks Bühnenbild: Bunte Folien senken und heben sich immer wieder zwischen den Personen, verhüllen mal den Blick auf die sich entkleidende Nyssia, verfremden, verfärben, spiegeln, verzerren die Bilder von den im Geflecht von Vorurteilen und Verständnisunfähigkeit herumirrenden Personen. Hinter all diesen Schleiern wohnt keine Erkenntnis, und auch wenn sich einige von ihnen heben, klärt sich nicht die Sicht auf die Geschehnisse. Tausend Schleier, das könnte die Kernaussage dieser fesselnden Inszenierung sein, verfremden unsere Sicht auf den Islam ebenso sehr wie den Blick der Muslime auf uns. Naheliegende Lösungen gibt es nicht – selbst wenn unser aller gemeinsamer Ursprung der Schoss jener Courbetschen Muttergöttin wäre, zu dem es keine Rückkehr gibt.