„Haller, Platz“
Von Hermann Schmidt
Ich bin in Oberhessen aufgewachsen, auf halber Strecke zwischen Marburg und Siegen, und mein Vater war auf dem Arbeitsamt in Biedenkopf beschäftigt. Zu seinen Aufgaben gehörte es, Anfang der sechziger Jahre die ersten italienischen Gastarbeiter aus Norditalien, die in Zügen nach Deutschland geholt wurden, zu begleiten und zu betreuen. Die Züge wurden in Verona, Brescia oder Bologna eingesetzt.
Bei einer dieser Dienstreisen hat mein Vater ein Heimspiel des FC Bologna mit Helmut Haller besucht und ihn persönlich kennengelernt. Schon seit der Weltmeisterschaft in Chile, bei der wir Deutschen im Viertelfinale durch ein 0:1 gegen Jugoslawien ausgeschieden waren, bekannte sich mein Vater vorbehaltlos zu seinem Lieblingsspieler Helmut Haller, über den sie in der Zeitung kritisch schrieben, dass er Horst Szymaniaks Beispiel folgen und für viel Geld nach Italien gehen würde. Bundestrainer Herberger, so die Zeitungen, habe Haller gedroht, ihn nicht mit nach Chile zur WM (1962) zu nehmen, wenn er vorher nach Italien ginge. Das fand mein Vater unerhört.
In Deutschland beschimpfte man damals Spieler, die ins Ausland gingen, an manchen Stammtischen als Legionäre und – schlimmer noch – zuweilen auch als Vaterlandsverräter. Wenn in der Dorfkneipe die Diskussionen entbrannten, dann verteidigte mein Vater die Fußballer Horst Szymaniak und Helmut Haller. Das seien begnadete Spieler aus einfachsten Verhältnissen, und wie jeder andere Mensch hätten sie das Recht, ihren Arbeitsplatz frei zu wählen und es zu Ansehen und Wohlstand zu bringen. Im Grunde gefiel meinem Vater aber noch etwas ganz anderes an den Spielern Helmut Haller und Horst Szymaniak. Sie waren nämlich alles andere als biedere Fußballhandwerker, die man heute gerne als „Rumpelfußballer“ bezeichnet.
Helmut Haller war ein Genie, nicht nur am runden Leder, dann, wenn er selbst den Ball führte. Er ahnte instinktiv, wie seine Mitspieler sich in der Offensive bewegten, ohne dass es seinerzeit dieses dusseligen Geredes von einstudierten Laufwegen bedurft hätte. Und die Bälle, die er abspielte, kamen an. Helmut Haller war ein Meister des Kurz-und Doppelpasses und im rechten offensiven Mittelfeld oder auch auf dem rechten Flügel einer der besten Dribbler, die es auf Europas Fußballfeldern seinerzeit zu bestaunen gab.
Und über dieses begnadete Talent als Fußballer hinaus mochte mein Vater am Menschen Helmut Haller, dass der das Herz auf dem rechten Fleck hatte, dass er ein Querkopf, aber ein liebenswerter Querkopf war, der sich nicht alles gefallen ließ. Wer im Jahr 1962 den Sportteil der Tageszeitung genau las, der wusste, dass die militärische Kasernierung der deutschen WM-Mannschaft in Chile der Leistung eines Helmut Haller nicht unbedingt förderlich war. Und ihn im Viertelfinale gegen die Jugoslawen im Jahr 1962 mit Defensivaufgaben zu betrauen, das war sicher einer der Gründe, wieso die deutsche Elf frühzeitig den Heimflug antreten durfte.
Auch nach dem Wechsel von Helmut Haller vom BC Augsburg nach Bologna sammelte mein Vater alle Informationen über seinen Lieblingsspieler aus Zeitungen und Illustrierten und heftete sie in einem DIN-A4-Ordner fein säuberlich ab. Er las Woche für Woche den KICKER, um immer aktuell über den Tabellenstand und die Spielergebnisse des FC Bologna in der Seria A südlich der Alpen informiert zu sein. Für ihn war klar: Der unaufhaltsame Aufstieg des FC Bologna in der 1. Italienischen Liga war ausschließlich die Folge des Engagements von Regisseur Helmut Haller. Dass daran auch der dänische Goalgetter und Torschützenkönig der Saison 1963/64, Harald Nielsen, entscheidenden Anteil hatte, nahm mein Vater wohl nur am Rande wahr.
Spiel für Spiel trug mein Vater die Ergebnisse des FC Bologna in seinen Hefter ein. Der FC Bologna wurde italienischer Meister und Helmut Haller hatte während seiner ersten Saison alle 34 Spiele bestritten. Womöglich weil mein Vater ein so glühender Bewunderer der Fußballkünste von Helmut Haller war, und weil er verständnisvolle Vorgesetzte hatte, wurde er während der Meistersaison des FC Bologna erneut für eine Begleitaktion italienischer Gastarbeiter, die in Bologna startete, ausgewählt. Die Rotblauen vom FC Bologna hatten, wenn ich mich richtig an die Erzählungen meines Vaters über das von ihm besuchte Spiel erinnere, den AS Rom mit sage und schreibe 4:0 besiegt. Helmut Haller war der überragende Spieler gewesen.
Aufgrund seiner Kommentare während des Spiels erkannte man ihn auf der Stehtribüne als Deutschen, und nun wurden ihm nun Sympathiebekundungen der italienischen Zuschauer zuteil, die dazu führten, dass er in ein Restaurant in der Innenstadt eingeladen und mitgenommen wurde. Zu später Stunde war dort zufällig sein Idol Helmut Haller aufgetaucht. Dem nun wiederum trugen die neuen italienischen Freunde meines Vaters zu, dass einer seiner deutschen Fans extra wegen ihm aus Hessen angereist sei – was nun wirklich nicht der Wahrheit entsprach. Helmut Haller aber bat meinen Vater zu sich an den Tisch, und trank mit ihm ein oder zwei Gläser. Zum Abschied händigte er meinem Vater ein Autogramm aus, auf das er schrieb: ARRIVEDERCI HANS, Helmut Haller. So als hätte „Il Biondo“ den späteren Italo-Hit von Rita Pavone mit genau diesem Titel vorausgeahnt. Als mein Vater nach Hause kam, berichtete er nicht etwa über einzelne Eindrücke seiner für damalige Verhältnisse weiten Reise, sondern nur von der Begegnung mit Helmut Haller.
Im ganzen Dorf und auf seiner Dienststelle wusste bald jedermann: Der Schmidt Hans hat doch tatsächlich den Helmut Haller in Italien getroffen. Im Treppenaufgang unseres Hauses hing seither ein Fotoporträt von Helmut Haller an der Wand. Im Büro meines Vaters stand das nun gerahmte Autogramm von Helmut Haller auf dem Schreibtisch. Im Notizkalender meines Vaters war Helmut Hallers Geburtstag eingetragen.
Und der Hund, ein Boxerwelpe, den mein Großvater einem Biedenkopfer Grabmacher in einer Gastwirtschaft abgekauft hatte, bekam auf ausdrücklichen Wunsch meines Vaters den Namen Haller. So gehörte von Mitte der sechziger Jahre an Haller zu unserer Familie. Weil ich damals Fan des 1. FC Köln war, hätte ich es lieber gehabt, dass der Hund Overath genannt worden wäre. Aber mein Vater sagte: Ich bin hier der Chef, der Hund heißt Haller, und basta.
Wenn der Hund im Garten herumstromerte, und der Vater ihn rief, „Haller, bei Fuß!“ oder „Haller, sitz“!, dann nahm die Verehrung meines Vaters für den schwäbischen Fußballstar schon merkwürdig witzige Formen an. Er nahm Haller auch mit in seine Stammkneipe, und dann sagten seine Stammtischbrüder, ach, du hast ja wieder den Haller dabei.
Bei der Übertragung der Fußball-Weltmeisterschaft aus England im Jahr 1966 saß mein Vater schon eine Stunde vor der Übertragung vor dem Fernseher und wartete auf die Aufstellung. „Haller, Platz“, sagte mein Vater. Haller setzte sich halbrechts neben den Vater und sah die ganze Fußball-Weltmeisterschaft samt seinem Namensvetter mit der Nummer 8. Und jedes Mal, wenn der Vater den Namen Haller im Spielverlauf in den Mund nahm, legte der Hund seinen Kopf etwas schief in Richtung meines Vaters und bekam anschließend ein Leckerli. Unser Boxer Haller legte auf diese Weise rasch an Gewicht zu, was beim Idol meines Vaters erst ein paar Jahre später sichtbar wurde.
Als Haller in England im Spiel gegen die Schweiz gleich zwei Tore zum 5:0 Sieg beitrug, murmelte er immer wieder vor sich hin „Unsterblich der Haller, unsterblich der Haller“ .
Mein Vater hatte seit seiner Bologna Reise an Helmut Haller einen Narren gefressen. Noch lange nach dem Wechsel des „Neapolitaners“ (so nannten ihn die Italiener aufgrund seiner Schlitzohrigkeit) von Bologna zu Juventus Turin, wo er zwei weitere Male italienischer Meister wurde, konnte man Wundergeschichten über Helmut Haller lesen, den die Fans in Italien vor allem in Bologna wie einen Heiligen verehrten.
Schon bald nach seiner Rückkehr zum FC Augsburg im Jahr 1973 mehrten sich die in manchen deutschen Boulevard-Zeitungen üblichen gehässigen Berichte über erfolgreiche Fußballer im Ausland, und auch solche über das Idol aus Augsburg. Manches, was in seinem persönlichen Leben „daneben“ ging (und Helmut Haller hatte nicht immer nur Glück nach seiner großen Karriere in Italien) wurde hämisch kommentiert und von manchen Neidern missgünstig belächelt.
Für die Menschen aber, die den Fußball lieben, und für die, die ihn näher kannten, wie z.B. Uwe Seeler oder Franz Beckenbauer, bleibt Helmut Haller, der einfache Junge aus Augsburg, ein sympathischer, ehrlicher, humorvoller und jedem offen und freundlich gegenüber tretender Mensch, der das Herz auf dem rechten Fleck hatte, und zu den besten deutschen Fußballern des 20. Jahrhunderts gehörte. – Und irgendwie hat mein Vater doch recht behalten mit seiner Prognose: Haller ist unsterblich. In Augsburg haben sie inzwischen sogar einen Platz nach ihm benannt.
Hermann Schmidt ist Geschäftsführer des Jahreszeiten-Verlags in Hamburg, Fan des St. Pauli und Autor von Fußballbüchern wie “FC St. Pauli – Der Kampf geht weiter”, “Zauber am Millerntor” oder “Wir kommen wieder”, die nicht nur für Pauli-Fans lesenswert sind. Der Text wurde von Schmidt auf der Eröffnungsparty des Helmut-Haller-Platzes vorgetragen.