Gänsehaut trotz heißen Wetters: Das Christian Stock Trio mit James Carter beim Jazzsommer
Vierter Konzertabend des Jazzsommers 2019: Bei tropischer Hitze war mit dem Christian Stock Trio der Saxophon-Superstar James Carter am Set. Ein Konzert mit leichten Mängeln, die durch ein großes Maß an Virtuosität aufgewogen wurden.
Von Frank Heindl
Gerade mal 24 Jahre alt war James Carter, als er 1993 sein Debutalbum aufnahm: „JC on the Set“ hieß das ganz unbescheiden und war nach nahezu einhelliger Kritikermeinung nicht nur ein bravouröser Einstand, sondern setzte auch gleich Maßstäbe an Virtuosität, Ausdrucksstärke und an einer erstaunlich reifen Verarbeitung der Jazztradition.
Einen Superstar wie Carter in den Botanischen Garten zu bringen, war sicherlich nicht einfach. Mit ihm in – so ist anzunehmen – aller Kürze ein langes Programm einzuproben, dürfte ebenfalls für alle Beteiligten eine Herausforderung gewesen sein: Immerhin spielte das Quartett am Mittwoch zwei mehr als einstündige Sets. Und so hakte es dann an manchen Stellen ein wenig. Schon beim ersten Stück, einer von Pianist Martin Schrack geschriebenem Funk-Nummer, hatte Carter anfänglich Orientierungsprobleme, kämpfte ein paar Takte lang mit unsicherem Timing, bevor sich sein Tenorhorn rockig-rotzig im Geschehen orientiert hatte.
Doch solche Startprobleme waren spätestens beim zweiten Stück vergessen – einem von Drummer Walter Bittner geschriebenen Walzer, den Carter schon aus dem Hintergrund mit einem kurzen Verweis auf John Coltranes ¾-Hit „My favorite things“ einleitete – und dann mit dem ungemein kraftvoll eingesetzten Sopransaxophon zu einem unbegleiteten Intro ansetzte, das nicht wenigen im Publikum trotz des heißen Wetters freudige Gänsehaut beschert haben dürfte.
Das Saxophon knarzt und schnarrt und singt
Hier schon zeigte Carter seine besondere Begabung, mehr Sound als üblich aus dem Saxophon hervorzuzaubern: Er holt durch Überblasen und Hineinsingen unglaubliche Sounds aus seinem Instrument, lässt es dreistimmig singen, lässt es schnarren und kratzen, aber auch trompetenhoch – und -klar jubilieren. Und gleich im selben Stück dann auch noch ein dezenter Hinweis auf Carters nicht eben klein geratenes Selbstbewusstsein, indem er im Ausklang noch einmal John Coltrane zitiert – jenen revolutionären Tenor- und Sopransaxophonisten, der, so mag es Carter erscheinen, nicht ganz zufällig die gleichen Initialen trug wie der Star des Abends.
Anlässlich von „restless legs“, einem Stück aus der Feder von Trio-Leader und Bassist Christian Stock, ließ Carter dann gleich anschließend zirkulargeatmete Endloslinien hören, deren einfallsreiche Virtuosität wohl unüberbietbar ist – ein Wahrnehmungsorgan allein reichte da nicht mehr aus, man musste Carter schon auch sehen, um glauben zu können, was man da hörte.
Fesselnde Dialoge mit den Kollegen
Geschenkt, dass Carter bei der abschließenden, etwas vertrackten Break-Serie wieder zeitversetzt nachhinkte und teilweise sogar ganz aussetzte – verdienter, brausender Applaus war ihm auch weiterhin sicher. Vogelgezwitscher aus dem Tenorsax, das in lautes Rumoren ausrastet, Perkussionseffekte durch rhythmisches Geklapper mit den Klappen und gleichzeitigem Quälen des Mundstücks durch Zubeißen und -schnappen – das sind bei Carter keine Showelemente (obwohl er auch ein Showman ist), sondern sinnvoll und musikalisch eingesetzte Soundeffekte – in Kirk Rolands „Steppin‘ into Beauty“ allemal am richtigen Ort. Aber auch gut platziert, wenn er tierische Geräusch aus dem Botanischen Garten oder gar lautes Niesen im Publikum als Inspirations- und Imitationsquellen nutzt und sich sein Instrument mehrmals und geradezu unflätig räuspert.
Hervorzuheben sind auch mehrere lange Call-and-Response-Techtelmechtel zwischen Martin Schracks Klavier und dem Saxophon – Carter weiß sogar auf heftig-brachiale Cluster vom Flügel die treffenden Antworten (auf schnelle Läufe natürlich sowieso), und auf ähnlich fesselnde Weise setzt er sich mit Walter Bittners Schlagzeug-Einfällen dialogisch auseinandersetzen. Das ist hohe Kunst schon in der Wahrnehmung der Kollegen und erst recht in der unmittelbaren Umsetzung aufs eigene Instrument.
Nebenbei ist Carter außerdem eine wahre Zitat-Maschine: Nicht nur, dass er Coleman Hawkins‘ Jahrhundertaufnahme des Klassikers „Body and Soul“ so kongenial interpretiert, dass dabei wie von selbst die Stimmung eines Nachtclubs der 40er-Jahre entsteht, nicht nur dass er berühmte Vorgänger wie Lester Young auferstehen lässt; nicht nur dass Jobims „Girl from Ipanema“ mannigfaltig und variationsreich immer wieder neu aufscheint; in seiner eigenen Komposition „JC on the Set“ – dargeboten als letztes Stück vor der Zugabe – zitiert er auch ein paar Noten aus der „Rhapsody in Blue“ – was er auch schon auf seinem Debutalbum getan hat. Wir erleben James Carter, wie er James Carter zitiert, der George Gershwin zitiert. Wie gesagt: Über mangelndes Selbstbewusstsein kann JC nicht klagen – aber sein Können, verbunden mit seinem tiefen Traditionsverständnis rechtfertigen das allemal.