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Donnerstag, 25.04.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

„Frei und gleich an Rechten“

Hans Joas stellte im Hollbau die Frage nach der Herkunft der Menschenrechte

Von Frank Heindl

Am 10. Dezember 1948 hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen in Paris die UN-Menschenrechtscharta verkündet. Seither sind die Menschenrechte „offiziell“. War das der „Beginn“ der Menschenrechte? Oder war nicht eher die Französische Revolution für die Entwicklung dieser Grundlage modernen Denkens und moderner Rechtgeschichte verantwortlich, als die Nationalversammlung im August 1789 verkündete: „Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es“? Man kann durchaus noch weitere Kalenderdaten finden, an denen der Geburtstag der Menschenrechte gefeiert werden könnte – zum Beispiel der Tag der Verabschiedung der Schlussakte von Helsinki im August 1975. All diese Daten würden belegen: Die Menschenrechte sind eine westliche Erfindung. Dass man darüber durchaus streiten kann, wollte der Soziologe Hans Joas am vergangenen Mittwochabend im Hollbau des Annahofes zeigen.

Prof. Hans Joas am Mittwoch im Hollbau (Foto: Frank Heindl).

Prof. Hans Joas am Mittwoch im Hollbau (Foto: Frank Heindl).


Im Rahmen der Reihe „Zusammen leben – Augsburger Reden zu Vielfalt und Frieden in der Stadtgesellschaft“ – sprach Joas dort zum Thema „Sind die Menschenrechte westlich?“ Schnell machte der 1948 in München geborene Wissenschaftler mit Weltruf deutlich, dass die Antwort auf die Frage des Abends weder ein eindeutiges Ja noch ein entschiedenes Nein sein kann. In der Tat kann man die Entstehung des Gedankens, dass das „Menschsein“ jeden menschlichen Bewohner dieses Planeten von Geburt an mit unumstößlichen Rechten ausstattet, auch in die Zeit der Entstehung des Christentum zurückverlegen – oder, noch weiter, bis zur Entstehung des Monotheismus bei den Juden. Auch die antike griechische Philosophie und verschiedene Entwicklungen der so genannten „Achsenzeit“ im zweiten bis achten Jahrhundert v. Chr. können einen gewissen Anspruch erheben, an der Entwicklung beteiligt gewesen zu sein. Die Entstehung eines „moralischen Universalismus“, so Joas, sei nämlich Grundbedingung für die Entwicklung des Gedankens von Menschenrechten – die Idee, dass alle Menschen einer Menschheit angehören und dass sich aus dieser Tatsache normative Ansprüche ableiten lassen, kurz gesagt: dass nur das wirklich gut ist, was für alle gut ist.

Grundlage der Entwicklung: die „Sakralisierung der Person“

Der Positionierung der Frage nach der Herkunft der Menschenrechte zwischen Rechts-, Ideen- und Mentalitätsgeschichte, zwischen Politik und der Philosophie von Platon bis Foucault widmete Joas einen weiteren Abschnitt seines Vortrags, um schließlich den von ihm gefundenen Platz zu rechtfertigen: Joas sieht die Entstehung der Menschenrechte begründet in einem Prozess, den er „Sakralisierung der Person“ nennt und am Anfang des 18. Jahrhunderts verortet. In dessen zweiter Hälfte begann die Kodifizierung der Menschenrechte, also deren Umwandlung von einem gefühlten, aber nicht einzufordernden Recht in positives, nach und nach auch einklagbares Recht. Als entscheidend für diese Kodifizierung wertet Joas die Französische Revolution, den Gründungsprozess der sich von ihren Kolonialherren befreienden nordamerikanischen Staaten und die Abschaffung der Folter als Bestandteil des Strafrechts in Europa. Im 19. Jahrhundert kommt als weiterer Meilenstein die Abschaffung der Sklaverei hinzu, im 20. die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen. Schritt für Schritt wurde so die „Sakralisierung der Person“ Wirklichkeit, also die Tatsache, dass das Individuum Mensch, seine Rechte, sein Schutz im Mittelpunkt stehen.

Wichtig an Joas‘ Vortrag und seiner Arbeit ist möglicherweise gar nicht eine Beantwortung der Frage, ob die Menschenrechte nun westlich seien oder nicht. In der Tat tut er sich schwer mit seiner These, dass die Frage nicht eindeutig zu beantworten sei: Zu formalistisch ist etwa das Argument, der Begriff „westlich“ sei nicht exakt zu definieren. Zu uneindeutig sind auch seine Distanzierungen von der westlichen Entwicklung, indem er aufzeigt, dass etwa das Folterverbot im Westen lange Zeit nicht funktioniert habe, wie die Exzesse im Rahmen der Dekolonialisierung Afrikas in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigen, ja, dass dieses Verbot bis heute nicht zuverlässig durchgesetzt sei, wie etwa der Krieg gegen den islamischen Terrorismus beweise. Joas weist auch deutlich darauf hin, dass die Beendigung der Sklaverei in Nordamerika zunächst einmal ein schlechtes Licht auf die USA selbst wirft, weil nie zuvor in der Geschichte ein auf Sklaverei basierendes Gemeinwesen derartig perfektioniert gewesen sei. Er zeigt auch, dass selbst die Abschaffung dieser jedem Menschenrecht widersprechenden Praxis auf ihre tiefe ideologische Verankerung in der westlichen Welt rückverweist – die Päpste etwa haben die Sklaverei erstmals verurteilt, als sie in Nordamerika schon verboten war.

Beide Seiten neigen zum „Triumphalismus“

Wichtiger an Joas Arbeit könnten tatsächlich die Reaktionen auf ihre Veröffentlichung sein – das, was er nun als „Gefahr des Triumphalismus“ bezeichnet. Zwei unterschiedliche Interessen hätten sich, so Joas, an seinen Thesen bedient. Die eine, westliche, reklamiere die Menschenrechte als ureigene Erfindung und damit als Beleg für die Überlegenheit westlicher Kultur, kurz gesagt: „Wir sind die Guten.“ Die andere Seite schließt sich dem Argument zur Hälfte an: Gut, sagt sie, ihr habt die Menschenrechte erfunden – wir aber brauchen sie nicht, denn wir haben eine ganz andere Kultur. Die nennt sich dann je nach Standort asiatisch, islamisch, neuerdings auch wieder russisch etc. Eine zweiseitige „Gefahr der Selbstsakralisierung“ sieht Joas darin, eine Gefahr, die jeder Religion, aber auch vielen säkularen Systemen eigen sei: Weil wir erkannt haben, was richtig ist, sind wir den anderen überlegen. Dieser Triumphalismus hat natürlich Konsequenzen: Trotzreaktionen auf beiden Seiten, mehr Konkurrenz, mehr Unverständnis.

„Letztlich können das alle verstehen“

Die anschließende, von dem Rechtswissenschaftler Matthias Rossi (Uni Augsburg) moderierte Diskussion mit dem Publikum gab Joas Gelegenheit, einige seiner Ausführungen noch zu vertiefen. Innovationen im Sinne des moralischen Universalismus stellten, so Joas, Herausforderungen für die anderen Kulturen dar. Kein Ärgernis also und kein Wunder, das diese anderen oftmals zu entdecken glauben, dass auch in ihrer Kultur „schon immer“ der eine oder andere Bestandteil dieser Neuerungen enthalten gewesen sei. Solche „retrospektiven Konstruktionen“ seien nicht negativ, sondern notwendig – es sei schließlich gut, wenn sich eine plurale Auswahl solcher Universalismen bilde: diese müssten dann einfach zusammenhalten gegen andere Ausdrucksformen, etwa den Rassismus. Eine kulturalistische Argumentation jedenfalls, die etwa behauptet, eine Entwicklung wie die der Menschenrechte sei nur in bestimmten Gesellschaften möglich und könne letztlich auch nur von deren Mitgliedern verstanden werden, teilt Joas nicht: „Letztlich können das alle verstehen. Es liegt an uns, es so auszudrücken, dass auch andere das verstehen können.“