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Freitag, 19.04.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

„Fledermaus“ polarisierte heftig

Lautstarke Empörung und noch mehr Applaus für eine gewagte Operetten-Inszenierung mit Längen

Von Frank Heindl

Der Premierenbesucher: Das gefällt Ihnen? Haben Sie nicht die Inszenierung in Wien gesehen?

Der Rezensent: Aber da müssten wir uns doch zu Tode langweilen, wenn wir immer nur nach Wien schauen würden!

Der Schauspieler: Eben, und jetzt ist hier endlich mal was los!

Für viele Besucher war es ein Skandal, in heftigem Geschrei und Gegengeschrei, in provozierenden Buhs und provozierten Bravos schien die Inszenierung der Straußschen „Fledermaus“ durch Thorleifur Örn Arnarsson mitunter auf der Kippe zu stehen. Das Ergebnis vornweg: Die „Fledermaus“ musste stark Federn lassen und das Ergebnis war nicht in allen Aspekten glücklich – doch vor allem muss man den Mut von Regie und Intendanz loben, dieses Wagnis auf die Bühne zu bringen. Eine jahrzehntelang zu beschämender Harmlosigkeit heruntergespielte Operette wurde in Augsburg zu neuem Leben erweckt, indem man sie „erbarmungslos beleuchtet“ hat (so Intendantin Juliane Votteler auf der Premierenfeier). Und im Augsburger Stadttheater war mal richtig „was los.“

Wodka und Champagner, was das Zeug hält. Dazu singt man „glücklich ist, wer vergisst“. Von Eisenstein (im Augustus-Kostüm: Jan Friedrich Eggers) repräsentiert „die Epoche“. Aber doch nicht unsere!?!

Wodka und Champagner, was das Zeug hält. Dazu singt man „glücklich ist, wer vergisst“. Von Eisenstein (im Augustus-Kostüm: Jan Friedrich Eggers) repräsentiert „die Epoche“. Aber doch nicht unsere!?!


Gabriel von Eisenstein muss für eine Woche ins Gefängnis und will den Abend davor für eine ausschweifende Feier nutzen, von der seine Frau nichts ahnen soll. Selbige beweint die Absenz ihres Mannes nur äußerlich – in Wahrheit hat auch sie schon ein amouröses Abenteuer geplant. Aufgrund einer Intrige aber begegnen sich beide maskiert auf dem abendlichen Fest, wo auch noch andere Sünden aus der Vergangenheit auffliegen – das ist, stark vereinfacht, der Plot der Straußschen Operette. Es geht um Lug und Betrug, um Heuchelei und missbrauchte Freundschaft, und die Ausrede für all dies ist der Alkohol, der mehr oder weniger bewusst eingesetzt wird, um alle Schranken oder, anders ausgedrückt: die Hosen herunter zu lassen.

Dass es mit ungetrübter Operettenseligkeit an diesem Abend nichts werden würde, dass der junge isländische Regisseur dem walzerseligen „glücklich ist, wer vergisst“ ein paar harte Kontrapunkte einzuziehen beabsichtigte, hatte sich schon zu Beginn gezeigt: Da brachen Bariton Thomas Kornack und Schauspieler Toomas Täht unvermutet ins Stück ein – und damit aus dem Stück aus. Denn nicht in ihren Rollen (als Gefängnisdirektor Frank und Wärter Frosch) enterten sie die Bühne, sondern als Kommentatoren und Warner: Man werde keine Politik machen, verkündeten sie, man werde sich an die Straußsche Partitur halten, und in der Pause dürfe das Publikum beim Orchester Musikwünsche abgeben – alle drei Behauptungen waren gelogen. Wie empfindlich Teile das Premierenpublikums auf solche Verfremdungen reagieren, wurde schon an dieser (nun aber mal im Ernst: doch wirklich sehr harmlosen) Stelle deutlich: Denn schon jetzt brach unverkennbar Unruhe aus. Und Täht/Kronach gossen Öl ins Feuer, indem sie auch gleich die für den Schluss vorgesehenen Buhs und Bravos einüben ließen.

„So, ich hab‘ jetzt noch einen Monolog“

Sogar Türen und Fenster haben einen Schlag weg im Bühnenbild von Vyautas Narbutas.

Sogar Türen und Fenster haben einen Schlag weg im Bühnenbild von Vyautas Narbutas.


Einige weitere dieser ganz im Sinne Brechtscher Verfremdungseffekte funktionierenden Störungen folgten im weiteren Verlauf – jedes Mal wurde das Publikum so darauf hingewiesen, dass hier etwas vorgespielt wurde. „Ich singe jetzt nicht, ich habe eine Sprechrolle“, gab es mal von Kornack zuhören, mit „so, ich hab‘ jetzt noch einen Monolog“ leitete Sally du Randt als Rosalinde Eisenstein eine Szene ein, ein andermal zitierte sie ausführlich Shakespeares Hamlet. Auch die Partitur wurde verfremdet, wenn etwa das Orchester aufgefordert wurde, eine Stelle noch schneller, und dann noch schneller, und schließlich ganz absurd schnell zu spielen – Regisseur Arnarsson straffte die Schnüre bis zum Zerreißen.

Er zerriss dabei mitunter tatsächlich das Stück, dessen Konsistenz und Stringenz spürbar in Mitleidenschaft gezogen wurde. Und er zerrte damit an den Nerven der Zuschauer, die angespannt abzuwarten gezwungen waren, ob das Ergebnis das Experiment lohnen würde. Die Zuspitzung kam schon im zweiten Akt: Eisenstein bekommt auf dem Ball des Prinzen Orlofski zunächst mal einen Liter Wodka eingeflöst. Auf die Frage, ob sein Kostüm nun Caesar oder eher Augustus darstelle, gibt er die sinnfällige Antwort, er stehe „für die Epoche“. Für welche Epoche also: Für jenes Wien der Straußschen Ära, in welcher das Bürgertum sich mehr und mehr Rolle und Gehabe des herunterkommenden Adels anmaßte, in der sich immer schlechter unterscheiden ließ, ob sich die Berechtigung zum schlechten Benehmen aus ererbtem Reichtum oder aus neuerworbener Anmaßung speiste? Oder für eine Epoche, in der Klassengegensätze und absurdes Machotum für naturgewollt gehalten wurden, in der die Vergewaltigung einer hübschen Zofe am Rande eines Gelages mit ein bisschen Geld oder einem Job beim Grafen schnell aus der Welt geschafft war?

Selten wurde in der Pause so erregt diskutiert

„Zieh die Hosen an!“ Toomas Täht als Gefängniswärter Frosch musste sich von empörten Zuschauern duzen lassen.


Solche Vergleiche wollten viele nicht hören und nicht sehen. Als der Gefängnisdirektor über Adele (Cathrin Lange) herfiel und deren Angst- und Schmerzensschreie sich in die Musik und den Smalltalk der Gesellschaft mischten, erschallten im Großen Haus erstmals die „Aufhören“-Rufe, und von nun an war nur noch schwer zu unterscheiden, ob die immer noch wachsende Anspannung von der sich immer noch steigernden Inszenierung oder von den wachsenden Spannungen im Parkett und auf den Rängen herrührten. Selten jedenfalls wird man im Theater schon vor der Pause nervlich so in Anspruch genommen, selten wurde im Foyer und auf den Gängen so erregt diskutiert, und selten wurde man noch auf dem Weg hinaus so barsch angefahren. Ob man denn nicht die Inszenierung in Wien gesehen habe, wurde man gefragt, und andere wunderten sich vorwurfsvoll, wieso bloß niemand den Mut gehabt habe, aufzustehen und den Saal zu verlassen.

Die Empörte wiederholte diese Frage auch während des dritten Aktes in unüberhörbarer Lautstärke mehrfach, sie selbst aber und auch alle anderen blieben sitzen und lauschten nun zunächst einer Musik, die mit Strauß wenig zu tun hat, weil sie aus dem „Batman“-Musical stammt. Dunkle, bedrohliche Töne kündigten so das Finale an, und als Toomas Täht als höchst betrunkener Frosch in Unterwäsche über die Bühne schwankte, musste er sich aus dem Publikum gleich duzen lassen: „Zieh die Hosen an!“, schallte es ihm altjüngferlich entgegen. Ein langer und wohl doch etwas gezwungener Monolog, in dem Täht den Darsteller des Frosch spielte, also sich selbst und doch nicht sich selbst, in dem über getöteten Talibankämpfern urinierende US-Soldaten vorkamen und doch nicht, konnte natürlich die Wogen nicht glätten.

Der Beifall galt auch der Freiheit der Kunst

Sollte er auch nicht, denn ihr eigentliches Ziel hatte die Inszenierung – nach einigen Längen und allzu viel Klamauk im dritten Akt – mit dem Schlusschor erreicht. „Champagner hat’s verschuldet!“ – mit dieser Verharmlosung werden normalerweise die vorangegangenen Abscheulichkeiten banalisiert und fröhlich weggesungen. Arnarssons Inszenierung aber hatte aus der wohlfeilen, heuchlerischen Ausrede für Brutalität, Menschen- und Frauenverachtung sogar noch die Ironie herausgeblasen: Was blieb, war reinster Sarkasmus und ein in der Tat erbarmungslos greller Blick auf eine Welt, die nicht durch Operettenseligkeit zu erlösen ist. Viel Empörung am Schluss, aber auch lauter Applaus, der vorwegnahm, worum Frau Votteler erst auf der anschließenden Feier bat: um Beifall „für die Freiheit der Kunst.“

Fotos: A.T. Schaefer