Fesselnder Auftakt auf schwankendem Boden
Brechtbühne eröffnet mit zwei streitbaren Stücken aus Israel
Von Frank Heindl
Da predigt nun die DAZ seit Jahren, dass das Theater – und eben auch das Augsburger Stadttheater – sich neuen Stoffen, neuen Themen, anderen Kulturen und Menschen öffnen müsse. Dass es Wagnisse eingehen müsse, dass es provozieren, Diskussionen anregen, Überkommenes in Frage stellen, Tabus verletzen müsse. Und nun das: Schauspieldirektor Markus Trabusch präsentiert als erste Eigenproduktion des Stadttheaters für die Brechtbühne mit „Israel, mon amour“ einen sehr streitbaren Theaterabend mit zwei Stücken, die Israels Palästinapolitik hart angreifen.
Deren erstes ist, im Nachhinein betrachtet, der einfachere, leichter zu verkraftende Stoff. Marcus Calvin spielt den autobiographischen Text von Tahir Najib, eines Palästinensers mit israelischem Pass, der am Jahrestag des 9/11-Attentats nach Israel fliegen will und wie ein Schwerverbrecher bewacht und eskortiert wird. Glücklich in Tel Aviv angekommen, bestellt er auf Arabisch ein Bier – woraufhin sich das Café in Minutenschnelle leert.
Wütend ist dieser Mensch – nicht nur auf seine Heimat Israel, sondern auch auf seine Landleute in Ramallah, die auf das Ende der Besatzung nur mit Spucken reagieren: „Sie tun nichts. Außer spucken. Sie spucken in jede Richtung, pausenlos und schnell.“ Warum sie das tun? „So ist eben die Besatzung.“ Denn die Besatzung ist in den Köpfen und verschwindet nicht mehr aus ihnen. Und sie beeinflusst auch den Erzähler: Er hätte gerne einfache Lösungen, würde gerne handeln, wäre gerne „eine Gestalt, die keine überflüssigen Fragen stellt. Die keinerlei moralische Werte befolgt. Dann brauche ich keine moralischen Rechtfertigungen mehr für unmoralische Taten.“ Auch die Möglichkeiten der Kunst reflektiert der trotz seiner Aggressivität vielschichtige Text: „Warum hetze ich dermaßen ins Theater, wenn das wirklich Wichtige draußen geschieht?“
Die Hamas bleibt außen vor
Dem Autor gelingt es, in wenigen frustrierten Sätzen den Kosmos der Befindlichkeiten eines palästinensischen Intellektuellen aufscheinen zu lassen. Und Marcus Calvin merkt man an, dass er diesen etwa 50minütigen Monolog nicht leicht nimmt – in der Tat war er eigens nach Israel gereist, um sich auf eine Rolle vorzubereiten, die ihm zunächst unspielbar schien. Was in den Anklagen Taher Najibs nicht vorkommt, ist allerdings die Reflexion der palästinensischen Gegenwart: Ist es nicht auch die Politik der Hamas, die mit ihrem Ziel der bedingungslosen Beseitigung Israels den Bewohnern von Ramallah keine Perspektive eröffnet? Außer der einen: Bomben zu bauen, Selbstmordattentäter zu schulen, das sinnlose Morden ad infinitum weiterzutreiben?
Einen Großteil seiner Rolle spielt Calvin auf drei unstet schaukelnden, schwankenden Tribünen, die Bühnenbildnerin Susanne Hiller von der Decke herabgelassen hat und die nicht nur als Flugzeug-Gangway dienen, sondern auch als Chiffre für den schwankenden, unsicheren Boden, auf dem sich die um ihr Land, um Heimat und Bezugspunkte kämpfenden Palästinenser ebenso wie ihre israelischen Gegenüber bewegen, ebenso wie die haltlosen Gedankengebäude, die ins Schwanken geratenen Ideologien, derer sich die Personen auch im zweiten Stück bedienen.
Ein Stück auch über die Zerrissenheit der israelischen Gesellschaft
Dieses 2011 uraufgeführte Stück heißt „Ulysses auf dem Flaschenfloß“, stammt von dem vielfach preisgekrönten israelischen Autor Gilad Evron und hat 2012 in Israel Auszeichnungen als bestes Stück und beste Uraufführung bekommen. Der Text kreist um einen Gefangenen in israelischer Untersuchungshaft, der versucht hat, die Seeblockade des Gazastreifens mit einem aus leeren Plastikflaschen gebauten Floß zu durchbrechen. Sein Ziel: Den auf dem Gazastreifen eingeschlossenen Palästinensern Bücher zu bringen, russische Literatur vor allem.
Einmal mehr also ein Stück auch über die Idee, mithilfe von Kunst die Geschichte, die Verhältnisse, die Menschen zu verändern – und deren Scheitern. Der nicht-palästinensische Israeli Ulysses ist kein wütend Desillusionierter, wie sein Gegenpart im ersten Stück. Tjark Bernau spielt ihn als teils verträumt-naiven, einzig vom Fanatismus der Literatur angetriebenen Menschenfreund, der sich nicht zerbrechen lässt, der aber auch nicht überleben wird. „Es sind beides humanistische Stücke“, sagt Regisseur Markus Trabusch. Doch in beiden Fällen macht sich dieser Impetus gerade am Fehlen der Humanität bemerkbar. „Ulysses“ wird auf eine Weise gefangen gehalten, die in Europa als psychische Folter gelten würde. Evrons Stück ist ein deutliches Zeichen für die Zerrissenheit der israelischen Gesellschaft: Denn obwohl – und wohl auch gerade weil – es äußerst schonungslos mit der Politik Israels ins Gericht geht, wurde es preisgekrönt.
Parallelen zur Nazizeit sind unumgänglich
Dem Gefangenen, gebeugt unter Susanne Hillers Bretterboden, stellt Evron mehrere Exponenten der israelischen Gesellschaft gegenüber. Den Anwalt Izakov (nochmals: Marcus Calvin), der alles juristisch Mögliche für seinen Mandanten unternimmt und trotzdem versucht, emotional auf Distanz zu bleiben. Dessen Frau Nuchi (Judith Bohle), die ihre Selbstverwirklichung in der Veranstaltung von Benefiz-Veranstaltungen sucht. Den Karriere-Juristen Yaniv (Alexander Darkow). Und den Bürokraten Seinfeld (Eberhard Peiker), der seinen Staat zu verteidigen bereit ist mit jeder Art von Loyalität – und der Izakov trotzdem provozierend mit entsetzlichen Nachrichten über die Lage auf dem Gazastreifen konfrontiert. Das sind die die am schwersten zu verdauenden Momente des Stücks: Denn Seinfelds bürokratisch exakte Fakten machen, ohne es zu erwähnen, Parallelen zur nationalsozialistischen Judenverfolgung unausweichlich. Wenn er etwa darüber nachdenkt, welche Auswirkungen die mangelhafte Nahrungsmittelversorgung des Gazastreifens auf die Gehirnstruktur der Palästinenser haben werde – dann werden zwangsweise Assoziationen an Josef Mengeles geweckt und dessen „medizinische“ Experimente an Auschwitzhäftlingen. Schauspieler Marcus Calvin spricht tags darauf denn auch tatsächlich von einer „Spiegelung des Holocaust in Israel.“
Darf man das? In Deutschland? Markus Trabusch und sein Team haben es sich unbestritten nicht leicht gemacht mit dem Thema. Und sie haben kritischen Einwänden vorgebeugt, indem sie ein Rahmenprogramm zusammengestellt haben, das die Inszenierung begleitet: Videoinstallationen im Holbeinhaus, Filmnächte und Publikumsgespräche im Theater (siehe Artikel weiter unten). Trabusch hat schon seine Magisterarbeit über „Autobiographien deutsch-jüdischer Exilanten nach 1945“ geschrieben und ist mehrmals nach Israel gereist, hat den Gazastreifen besucht. Dass es „diese Praktiken“ gebe, argumentiert er, habe „nichts mit ‚Nazi‘ zu tun. Das ist ein innerisraelisches Problem.“ Und die Art und Weise, wie „Ulysses“ als Gefangener von seinem Staat behandelt werde, sei nicht erfunden, sondern die autobiographische Erfahrung des Autors nach seiner Wehrdienstverweigerung.
Die Antisemitismusfalle ist aufgestellt
Rechtfertigen kann man die Doppelinszenierung wohl vor allem mit dem idealistischen Argument, Kunst müsse stets und überall die Wahrheit verkünden. In Trabuschs Worten: „Da, wo so etwas geschieht, muss man eingreifen. Theater ist dazu da, das vermeintlich Andere aus der Innenperspektive darzustellen.“ Dass die Inszenierung sich als proisraelisch begreift, teilt schon der Obertitel mit: Es geht um die Liebe zu diesem Land und seinen Bewohnern. Die Antisemitismusfalle aber ist trotzdem aufgestellt: Nur zu gerne hören „Israelkritiker“ von ganz rechts bis weit links das Argument, in Israel werde der Holocaust nun andersherum verübt – „die Juden“ seien den Nazis nur allzu ähnlich. Von den Raketen, die aus Gaza Richtung Israel fliegen, ist auch in Evrons Stück nicht die Rede.
Das Stück und seine Schauspieler allerdings vermögen diesem Kurzschluss vorzubeugen. Besonders Eberhard Peiker gibt dem loyalen Staatsdiener Seinfeld eine Dimension, für die der Begriff „Zerrissenheit“ noch einmal bemüht werden muss. Denn so ernsthaft und bedingungslos dieser militärisch anmutende Zivilist für seinen Staat zu kämpfen bereit ist, so sehr verdeutlicht Peiker auch mit minimalen Gesten, dass Seinfeld im Begriff ist, an diesem Auftrag zu zerbrechen – auch wenn er ihn gutheißt. Und auch Izakov wird schließlich an seinem Glauben an das Recht und an die emotionale Trennung von Mandant und Anwalt zerbrechen: Als er sich, ganz gegen seine Art, entschließt, Ulysses zu umarmen, ist eine Grenze überschritten, über die es kein Zurück mehr gibt. Sein Mitgefühl wird Auswirkungen haben auf seine Position in der Gesellschaft, als Anwalt – und auf seine Ehe.
Viel Wagnis, viele Dimensionen, viel Diskussionsstoff: ein fesselnder Auftakt für die Brechtbühne und für die neue Theatersaison – wenn auch auf schwankendem Boden.