Fassbinder ist nicht tot
Beide haben mit ihren Werken die Kunst des 20. Jahrhunderts geprägt. Beide waren bereits zu Lebzeiten in ihren Genres Markt- und Meinungsführer, beide waren ich-süchtige Dekonstruktions-Götter, deren Subversionsarbeit bezüglich bürgerlicher Ästhetik- und Moraldiktate tiefe Spuren im frühen wie späten Nachkriegsdeutschland hinterließ. Beide, man mag es kaum glauben, sind in Augsburg zur Schule gegangen und natürlich haben beide zuerst im nahen München Tritt gefasst. Die Rede ist von Bertolt Brecht und Rainer Werner Fassbinder.
Von Siegfried Zagler
Margarethe von Trotta und Rainer Werner Fassbinder – © Volker Schlöndorff
Die Wege der beiden Weltstars kreuzten sich verständlicherweise „nur“ durch die Beschäftigung des jungen Fassbinders mit Brechts Baal. Letzteres stimmt nur bedingt. Denn Fassbinder beschäftigte sich weder mit Brecht noch mit der Figur des Baal genauer. In Fassbinder schlummerte die Welt des Baal schon lange, und zwar lange bevor ihm Volker Schlöndorff die Baal-Rolle in seiner gleichnamigen Verfilmung des frühen Brecht-Stückes anbot. „Baal“ war die erste Produktion der Münchener Hallelujah-Film GmbH, die 1969 von Volker Schlöndorff und Peter Fleischmann ins Leben gerufen wurde. Laut seiner Website hat Schlöndorff die Fernsehproduktion des Baal als einen Versuch angelegt, ‚zwischen der Kategorie Film und der Kategorie Fernsehspiel eine Darstellungsform zu finden, die den Möglichkeiten des Mediums Fernsehen besser angepasst ist.‘
Der Versuch ist reichlich misslungen. Und wäre die bis heute praktizierte unerträgliche Geschmackszensur der Brecht-Erben nicht für sich ein Skandal, könnte man Helene Weigels Urteil („schauderhaft“) problemlos teilen. Helene Weigel belegte die seltsam leblose Baal-Verfilmung nach zwei TV-Ausstrahlungen mit einem Veröffentlichungsverbot, das von der Brecht-Tochter Barbara Brecht-Schall 40 lange Jahre bestätigt wurde, obwohl sich die Fassbinder Foundation immer wieder um eine Aufhebung der Zensur bemühte. Bis unerwartet im Sommer 2011 eine Mail bei der Stiftung eintraf: „Sie hatten mir am 7. Mai 2009 einen Brief geschrieben mit der Bitte um die Möglichkeit, den ,Baal‘-Film auf DVD herauszubringen und zu verwerten. Ich habe Ihnen damals geantwortet, dass meine Mutter gegen diesen Film war und ich mich nicht imstande gesehen habe, ihn freizugeben. Nun muss ich gestehen, es sind 40 Jahre her, und der Ruf von W. Fassbinder ist ja wirklich sehr groß. Ich würde jetzt erlauben, dass er auf DVD herauskommt.“ – Der Bann gegen Schlöndorffs Baal-Film wurde von der Brecht-Zensur nicht aus Einsicht, also aus künstlerischen Gründen aufgehoben, sondern wegen seiner durch die vergangenen Jahrzehnte aufgeladenen Historizität, die nicht gegeben wäre, würde Rainer Werner Fassbinder nicht den Baal geben. Fassbinder ist das Ereignis, ohne seine Präsenz wäre Schlöndorffs Baal ein stolperndes wie verwackeltes Episoden-Filmchen, dessen dramaturgische Armut dergestalt durchschlagend ist, dass es in einem imaginären Filmlexikon „Dilettantische Ausreißer berühmter Regisseure“ einen Sonderplatz einnehmen würde. Nicht Fisch nicht Fleisch, nichts woran man sich damals hätte reiben können, nichts, was heute etwas wert wäre, wenn man mal davon absieht, dass beinahe alle Darsteller wie Laienschauspieler Brechts Text aufsagen.
Rainer Werner Fassbinder war damals 24 Jahre alt und hatte bereits seinen ersten Film („Liebe ist kälter als der Tod“) bei der Berlinale vorgestellt. Während der Dreharbeiten schnitt Fassbinder nächtens seinen zweiten, nicht weniger verstörenden Film („Katzelmacher“) und schrieb („Schlafen kann ich, wenn ich tot bin“) an einem Hörstück. Nach und vor den Dreharbeiten entstand Wichtigeres als während der Drehs: Fassbinder verliebte sich in einen Mann (Günther Kaufmann), heiratete aber unmittelbar nach Fertigstellung des Films Ingrid Caven. Margarethe von Trotta, die als ausgenutzte und missbrauchte Sophie mit ihrer sparsam gespielten Verzweiflung zumindest ein wenig den Eindruck vermittelt, als hätte sie damals geahnt, was sie als Darstellerin zu tun hat, und Volker Schlöndorff verliebten sich ineinander, heirateten später und sollten lange Jahre in reger Zusammenarbeit die deutsche Filmgeschichte über die siebziger Jahre hinaus prägen. Von einem Kinobesuch sollte sich wegen der DAZ-Bewertung niemand abhalten lassen, zumal die ZEIT sich im Februar, als der Film im Rahmen der Berlinale in einer restaurierten Fassung nach 44 Jahren wieder das Licht der Welt erblickte, sehr begeistert zeigte:
Rainer Werner Fassbinder ist gar nicht tot! Er isst und trinkt und hurt und schimpft und pöbelt sich wie ein Halbstarker durch die deutsche Gesellschaft vom Ende der sechziger Jahre. Er beleidigt Mäzene, ersticht seinen Freund, treibt junge Frauen in den Selbstmord, verfasst in liederlichen Schänken rohe Verse und singt schnapsgetränkte Balladen. Auf der Berlinale ist Fassbinder als proletarischer Dichter Baal in Volker Schlöndorffs gleichnamiger Brecht-Adaption zum ersten Mal auf der Leinwand zu sehen – mehr als vierzig Jahre nachdem der Film gedreht und nach seiner Fernsehausstrahlung von den Brecht-Erben verboten wurde. Es ist die wild erzählte Geschichte eines asozialen Dichters, der doch nur Reaktion auf eine asoziale Welt ist: „Was kann ich dafür, wenn dein Wein, den du mir gibst, mich besoffen macht?“
Bis einschließlich Mittwoch ist Rainer Werner Fassbinder als Baal im Savoy zu sehen. Beginn: 18.30 Uhr. Länge: 84 Minuten.