Fahrradstadt 2020 – Eine Ortsbegehung
Das Ziel ist eindeutig: Augsburg wird Fahrradstadt. Dies hatte der Stadtrat auf Anregung des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs (ADFC) und des Fachforums Verkehr der Lokalen Agenda im Jahr 2012 einstimmig beschlossen.
Von Bernhard Schiller
Foto: Kleeblatt-Film
Fünf Jahre sind seit der Entscheidung im Rathaus vergangen, gerade einmal drei Jahre bleiben bis zum angepeilten Abschluss im Jahr2020. Dieser Zeitplan kann wohl nicht eingehalten werden. Wo steht das Projekt? Was wurde erreicht, woran hakt es noch? Wird überhaupt spürbar daran gearbeitet? Auf Einladung der Stadtratsfraktion der Grünen konnten vergangenen Freitag interessierte Bürgerinnen und Bürger diese Fragen im Vortragssaal der Stadtbücherei mit den Verantwortlichen diskutieren. Das war informativ, bisweilen amüsant. Vor allem aber enttäuschend. Nach diesem Abend muss die eigentliche Frage lauten: „Ist Augsburg leidenschaftlich genug für eine Fahrradstadt?“
Ein Kampf auf offener Straße
Zunächst muss anerkennend festgehalten werden: Weder den anwesenden Fahrradaktivisten, noch den anwesenden Verantwortlichen aus der Stadtregierung mangelt es am Willen, Augsburg in eine „fahrradfreundliche Kommune“ zu verwandeln, wie es in der Beschlussvorlage aus dem Tiefbauamt heißt. Die Geister scheiden sich allerdings schnell an der Frage, was „fahrradfreundlich“ bedeutet. Klar ist, dass ein Umbau zur Fahrradstadt nur mittels Zurückdrängung des Kraftverkehrs zu haben ist, insbesondere durch die Aufhebung von Fahrspuren und das Wegfallen von Parkplätzen. Umweltreferent Rainer Erben nutzt beim Radfahren bereits jetzt den ihm rechtmäßig zur Verfügung stehenden Platz. Er bekennt sich als “Vollradler” und spricht wörtlich von einem „ewigen Kampf“ der Rad- gegen die Autofahrer auf offener Straße. Seiner Partei geht es naturgemäß darum, den „globalen Klimawandel zu stoppen.“ Ein ambitioniertes Vorhaben, wenn man bedenkt, wo überall auf dem Globus bis 2020 Fahrradstädte entstehen müssten. Ein, zwei Jahre hin oder her können also nicht Rechtfertigung für einen polemisierten Diskurs sein.
Gesellschaftlicher Strukturwandel erfordert neuen Städtebau
Es existieren denn auch andere, bemerkenswerte und triftige Gründe, die für eine fahrradfreundliche Umgestaltung von Verkehrswegen und Plätzen sprechen. Dr. Ralf Kaulen, renommierter Chefplaner der Fahrradstadt, machte in seinem Vortrag auf den allgemeinen gesellschaftlichen Strukturwandel aufmerksam. Städte würden zunehmend kulturisiert, die Bedeutung von Aufenthaltsorten außerhalb von Wohnung und Arbeitsstelle (Third Places) nehme deshalb zu. Die allgemeine Lebenserwartung steige (Stichwort: Silver Society). Faktoren, die zum Wunsch nach einer entschleunigten Mobilität führen und, so Kaulen, die Gestaltung „schöner Räume und Plätze“ verlangen. Das klingt nach Lebenskunst, locker, sinnstiftend. Und macht einen gänzlich anderen Eindruck, als die auf seinen Vortrag folgende Diskussion.
Einseitige Debatte um schnelle Verbindungen
Die drehte sich vornehmlich um Fahrradschnellwege, Hauptverkehrsachsen und Duschen, die fahrradfreundliche Arbeitgeber ihren verschwitzten (weil abgehetzten?) Mitarbeitern zur Verfügung stellen sollten. Kaulen selbst gab diesen Algorithmus vor. Wer eine Fahrradstadt haben wolle, dürfe sich nicht mehr fragen, wie er möglichst viele Kraftfahrzeuge pro Stunde, sondern wie er möglichst viele Menschen pro Stunde von A nach B bekäme. Folgerichtig beschweren sich auch die anwesenden Fahrradaktivisten über zu lange Wartezeiten an Ampeln und auf den ersten Blick unsinnige Druckknöpfe, die von einer in ihren Augen lahmen Verwaltung aus reiner Ignoranz installiert würden. In diesem Moment entsteht der Eindruck, als sei der komplette Fahrradstadtdiskurs einer rationalistischen Effizienzlogik unterworfen. Kein Wunder also, dass das anvisierte Ziel, bis zum Jahr 2020 den Fahrradverkehrsanteil von 15 Prozent auf mindestens 25 Prozent erhöht zu haben, negativen Stress hervorruft. Vor allem, wenn der dafür so erforderliche Bewusstseinswandel in den Hirnen der Kraftfahrer und ihrer verstockten Rathauslobby einfach nicht stattfinden will. Sozialtechnologe Kaulen ergründet deshalb nicht nur asphaltierte, sondern auch neuronale Netze. „Wie denken Menschen?“ – „Wie verhalten sich Menschen?“, so sollte das erkenntnisleitende Interesse lauten, an dem sich Stadtplanung auszurichten habe. Insbesondere dann, wenn große Veränderungen erreicht werden sollen. Wie, so der Ingenieur sinngemäß, sei es zu schaffen, „dass die Bürger den Nutzen der Fahrradstadt erkennen“?
Noch keine Gleichberechtigung aller Verkehrsteilnehmer
Der Glaube, Menschen würden ihr gewohntes Verhalten freiwillig ändern, wenn sie nur die richtigen Argumente hörten, ist naiv. Es ist auch vollkommen egal, ob einzelne gegenüber den Mobilitätsentscheidungen anderer Verständnis aufbringen, oder nicht. Als Bürger und Mitglied eines Rechtssystems hat jeder die Rechte der anderen schlicht zu achten, auch entgegen der eigenen Räson. Es ist erklärtes Planungsziel der Fahrradstadt 2020, dass Radverkehr und Kraftverkehr gleichberechtigt sind. Es wäre also Aufgabe von Ordnungsdienst und Polizei – auch das ein Wunsch aus der Bürgerschaft und des ADFC – die Rechte des strukturell unterlegenen Radverkehrs verstärkt geltend zu machen, etwa bei der konsequenten Ahndung von Parkverstößen auf markierten Radwegen (siehe Bild). Die Vertreterin des städtischen Ordnungsdienstes meinte allerdings, dass Verwarnungen hier nichts brächten, da das jeweilige Auto ja trotzdem weiterhin im Weg stünde. Mit einem derartigen Rechtsverständnis kann der Ordnungsdienst seine Tätigkeit auch ganz einstellen. Dem entgegen wird in einem Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG v. 04.07.1967) zum „Charakter der gebührenpflichtigen Verwarnung als Verwaltungsakt“ eindeutig die präventive Wirkung von Verwarnungen zur „Aufrechterhaltung der Verkehrsdisziplin“ festgestellt. Für Drahtesel-Moralisten sei angemerkt, dass die gebührenpflichtige Verwarnung laut BVG-Urteil „keinen ethischen Schuldvorwurf“ beinhaltet. Dies umfasst auch den Aspekt der „negativen Generalprävention“, also der Wirkung auf andere Verkehrsteilnehmer.
Der fehlende Flächenbrand
Auch braucht niemand mehr eine politische Begründung für die fahrradfreundliche Stadt. Ein demokratisch legitimiertes Gremium – der Stadtrat – hat die Umsetzung in der letzten Amtsperiode einstimmig beschlossen. Grundlage der Entscheidung war laut Beschlussvorlage vom 11.10.2012 die Förderung einer „stadt- und umweltverträglichen Mobilität (…) in besonderem Maße und mit hoher Priorität“. Daran müssen sich alle an der heutigen Stadtregierung beteiligten Parteien und die Verwaltung messen lassen. Leichter fiele das zumindest den Angestellten der Verwaltung – allen voran dem Fahrradbeauftragten Thomas Hertha, wenn eine freundliche Anerkennung der Fortschritte durch die Bürger den Diskurs mitbestimmte. Insbesondere müssen sich freilich die an der aktuellen Stadtregierung beteiligten Grünen verantworten, deren Kerngeschäft die Umweltpolitik ist. Schließlich sind die Grünen ein Teil der Stadtregierung, weshalb sie auch den Umweltreferenten stellen.
“Wir sind Autostadt”
Tatsächlich wurde einiges spürbar zum Positiven verändert: Selbst im schlimmsten Hagelunwetter wäre es bis vor einiger Zeit noch undenkbar gewesen, mit dem Fahrrad in die Tram einzusteigen, ohne umgehend mit Augsburg zu kollidieren. Trotzdem trifft der von ADFC-Vorstand Janos Korda vorgebrachte Vorwurf sicher zu: Die Entwicklung zur Fahrradstadt nimmt in den Haushaltsplanungen und in der Öffentlichkeitsarbeit der Stadt lange nicht den Stellenwert ein, der dem vollmundigen Titel „Fahrradstadt“ angemessen wäre. Großformatige Blechtafeln werben in Pink und anderen Farben beispielsweise an der B17 mit dem Slogan: „Die neue Innenstadt. Bequem ins Zentrum.“ Das heißt übersetzt: „Wir sind Autostadt.“
Auch eine fahrradaffine Werbeagentur könnte ein nicht vorhandenes Konzept herbeikommunizieren
Dem tut es dann auch keinen Abbruch, wenn derselbe Kommunikationsdesigner den Mauszeiger en passant nochmal ins Pink tunkt, um die Augsburger Radlnacht zu bewerben. Selbst eine fahrradaffine Werbeagentur könnte nicht herbeikommunizieren, was als Vision, oder wenigstens Konzept, nicht vorhanden ist. Weiße Linien entlang der Hauptverkehrsachsen und die Zielvorgabe von 25 Prozent Fahrradverkehrsanteil machen noch keine Fahrradstadt. Um dem Label gerecht zu werden, müsste eine deutliche Bevorzugung des Fahrradverkehrs im Sinne einer politisch gewollten Fahrradkultur stattfinden. Chefplaner Kaulen präsentierte zwar phantastische Bilder aus anderen Städten, anhand derer er mehrfach das Motto „Think Big!“ ausgab und sprach von einem „Flächenbrand“, der in Augsburg entfacht werden müsse. Bloß wie, wenn nicht einmal die zirka 80 Teilnehmer an diesem Abend den Vortragssaal der Stadtbücherei zu entflammen wissen?