“Es gibt gar nicht so viele Kränzles und Schneiders, die man therapieren müsste”
Otto Hutter im DAZ-Interview
Otto Hutters Interview offenbart schlagartig die große Schwäche aller Augsburger Brechtfestivals unter der Ägide Lang. Dabei handelt es sich immerhin um Festivals die von Bernd Kränzle (CSU) und dem Ruheständler und ehemaligen SPD-Stadtrat Karl-Heinz Schneider als “großartig” empfunden werden. Hutter hat Philosophie, Germanistik und Musikwissenschaft studiert. Seit Mai 2014 sitzt der Deutschlehrer für die Augsburger Linken im Stadtrat. Das Interview ist nicht aktuell, sondern wurde bereits im Dezember 2014 geführt. Aktueller als es jetzt ist, war es selbst an dem Tag nicht, als es erstmalig erschien.
DAZ: Herr Hutter, Sie haben kürzlich am Rande der zurückliegenden Kulturausschusssitzung eine Bemerkung gemacht, die ich bemerkenswert fand, und weshalb wir dieses Interview vereinbart haben. Erinnern Sie sich?
Hutter: Ich glaube ja, aber helfen Sie mir ein wenig.
DAZ: Sie fingen mit Sophokles an …
Hutter: … und ich hörte mit Brecht auf.
DAZ: Genau, wenn Sie das für unsere Leser nochmals kurz ausführen könnten.
Hutter: Das war nur so spontan gesagt. Aber gut, ich wiederhole mich gerne. Die Kritik an den bisherigen Brechtfestivals ist genauso einfach zu verstehen wie Brechts Werk, das man niemandem näherbringen muss. Und zwar in allen Ländern: In den USA, in Lateinamerika, in Europa, überall wird Brecht verstanden. Das Verstehen mag von unterschiedlicher Tiefe sein, mag unterschiedliche Ausdrucksformen verlangen und braucht eine Bühne, Schauspieler, Regisseure und gute Übersetzer. Wer aber meint, Brecht und sein Werk einer Stadtgesellschaft näherbringen zu müssen, hämmert auf den falschen Amboss, hat die falsche Arbeitshypothese. Wer mit diesem Denken ein Festival entwickelt, tut so, als müsste man erklären, was Durst ist, oder woher Hunger kommt.
DAZ: Lassen Sie uns auf Sophokles zurückkommen.
Hutter: Sophokles hat den politischen Urkonflikt beschrieben, der erwächst, wenn man um einer höheren Ethik willen gezwungen ist, königliches Recht zu brechen. Der Zwang, gegen den Willen des Königs handeln zu müssen, ist nicht erst in den bürgerlichen Zirkeln im vorrevolutionären Frankreich entstanden, sondern auf der Bühne der Antike. Das war der erste große Schritt in der Geschichte der Zivilgesellschaften. Hier steckt schon Kants Satz, man müsse den Mut haben, den eigenen Verstand zu gebrauchen. Bereits bei den alten Griechen findet die Aufklärung ihren Anfang. Bei Shakespeare geht es nicht um irgendwelche historischen Könige namens Richard oder Henry. Es geht um Prototypen, um Menschen in Situationen, in denen es keine Rolle spielt, ob man König, Bürger oder Knecht ist. Shakespeare hat die individuellen Abgründe der menschlichen Seele erforscht und dramatisiert. Sein Theater war für das einfache Volk wie für den Adel. Nicht gesellschaftliche Missstände waren sein Metier, sondern die Abgründe der Menschen. Und Brecht vollzieht den nächsten Schritt. Er stellt die Individuen in ihre Umgebung, beschreibt ihre Rolle unter den jeweiligen „Verhältnissen“ und erforscht und dramatisiert die Zwänge in der industrialisierten Welt. Drei Dramatiker, drei Meilensteine der Weltliteratur. Drei Lokomotiven der Geschichte, wenn Sie so wollen.
DAZ: Und in Augsburg untersucht man Fragestellungen wie „Brecht und der Film“?
Hutter: Ja. Das ist eine weitere Schrulle im Verhältnis der Stadt zu ihrem großen Sohn. Genauso das Geschwätz, dass Brecht nicht nur Dramatiker und Lyriker gewesen sei, sondern „ein Universalist“ – Themaverfehlung! Wenn man sich dann noch das zweite Festivalmotto in Erinnerung ruft: „Brecht und die Musik“, dann will man einfach davonrennen. Das gleiche gilt für „Brecht und die Politik“. Das sind Marginalien, die man in 45-minütigen Vorträgen abhandeln kann. Brecht steht in einer Reihe mit Sophokles und Shakespeare. Er ist der größte Dramatiker der Moderne. Seine Bedeutung verdoppelt sich noch dadurch, dass er die Lyrik neu erfunden hat. Durch die Depression nach dem ersten Weltkrieg waren die Autoren entweder verstummt, oder sie versuchten mit Hilfe des Expressionismus ihre Traumata zu bewältigen. Anders Brecht. Er kehrte ungeniert zu den „überkommenen“ Formen zurück. Plötzlich gab es wieder ein Metrum, gelegentlich reimten sich die Gedichte wieder, und man nahm es ihm ab. Brechts Lyrik ist einzigartig und wird ebenfalls in allen Sprachen der Welt verstanden. In den Programmen von Joachim Lang sah ich bisher wenig Theater und gar nichts über Brechts Lyrik. Das ist absurd.
DAZ: In der Augsburger Lokalpolitik kamen Langs Programme aber gar nicht so schlecht an.
Hutter: Auch richtig. Das hatte in erster Linie wohl damit zu tun, dass man sich hier kaum mit Brecht befasst hatte. Brecht wurde von der lokalen Politik entweder verehrt oder dämonisiert. Aber es gibt gar nicht so viele Kränzles und Schneiders, die man therapieren müsste. Brecht ist am Augsburger Theater überdurchschnittlich viel gespielt worden. Shakespeare hätte aus Kränzle und Schneider Prototypen gemacht, die aus unterschiedlichen Weltbildern heraus an der gleichen Figur zu scheitern drohen, und dann kommt die Katharsis: ein Filmemacher aus Stuttgart. (lacht).
DAZ: Ein Wort zum aktuellen Programm?
Hutter: Es ist der gleiche Käse wie immer. Kunst, in unserem Fall die Aufführung und die Form der Präsentation von Brechts Werken, muss sich immer neu erfinden. Wenn man bei einem einmal entwickelten Format stehenbleibt, dann werden auch immer nur diejenigen, denen das bisherige Format subjektiv etwas gebracht hat, wiederkommen. Eine Weiterentwicklung auch in Richtung auf ein neu zu erschließendes Publikum bleibt verbaut. Die Aufgabe kann nur sein, das Genie Brecht in den Mittelpunkt zu stellen. Konkret: Stücke und Gedichte. Was die Aufführung der Stücke betrifft, kommt dem Theater wesentliche Bedeutung zu. Es kann nicht sein, dass der Intendantin Juliane Votteler ein Festival-Leiter vor die Nase gesetzt wird. Sie muss von Anfang an in die Entwicklung des Konzepts und in die Findung der Personen, die künstlerisch für das Festival Gesamtverantwortung tragen, einbezogen sein.
DAZ: Nur Lyrik und Theater?
Hutter: Wenn es sein muss, darf es auch Rahmenveranstaltungen geben. Eine Brecht-Stadtführung, Brecht-“talks“, Brecht-Konzerte. Aber diese müssen Umrahmungen bleiben und dürfen den Kern nicht ersetzen. Sonst geht es einem wie dem Sucher nach der „eigentlichen“ Artischocke bei Wittgenstein. Auf der Suche nach dem Kern entfernt er Blatt um Blatt … und am Ende bleibt nichts.
DAZ: Herr Hutter, vielen Dank für das Gespräch.
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Fragen: Siegfried Zagler