EM Halbfinale: Duell der Lämmer
Warum zwischen dem deutschen und dem italienischen Fußball heute kaum ein Unterschied besteht
Von Siegfried Zagler
Im zweiten Halbfinale der Fußballeuropameisterschaft treffen heute Abend in Warschau mit Italien und Deutschland zwei Fußballnationen aufeinander, die längst nicht mehr in die Schablonen tradierter Wahrnehmungsrituale passen. Kollektive Wahrnehmungsrituale, die ohnehin nicht an der Wirklichkeit interessiert waren, sondern eher aus dem limitierten Interpretationsvermögen des Sportjournalismus entsprangen. Die italienische Schablone: Das Land der Gentiles und Materazzis, der Zerstörer und Provakateure. Ein Land des Skandalfußballs, dessen höchste Kunst in einem dreckigen 1:0 zu bestehen scheint. „Sie wälzen sich für ein 0:0 wie die Schweine im Dreck“, so skizzierte einst Johann Cruyff den italienischen Fußball.
Diese Medien-Zuschreibungen waren ähnlich grob gestrickt wie diejenigen, die den deutschen Fußball viele Jahre heimsuchten. Deutschland: Das Land der Briegels, Försters und Kohlers, der Kampfmaschinen und Grätsch-Bestien. Deutsche Panzer eben, deren einzige taktische „Waffe“ darin bestand, den Gegner mit Kraft und Kampf niederzuhalten. Klischees entstehen nicht aus dem Nichts, führen aber dazu, die Wahrnehmung zu kanalisieren, den Blick auf das Bekannte zu verfestigen, statt das Ganze ins Auge zu fassen.
Lichtgestalten des schöpferischen Fußballs
Die deutsche Fußballnationalmannschaft hielt über ein halbes Jahrhundert ihre Qualität nahezu ungebrochen in erstaunlichen Höhen, weil ihr auf den beiden exponiertesten Positionen, also im Tor und in der Sturmspitze eine Reihe von einzigartigen Weltklasse-Spielern zur Verfügung stand: Sepp Maier, Harald Schuhmacher, Oliver Kahn und Manuel Neuer; Uwe Seeler, Gerd Müller, Klaus Fischer, Karl Heinz Rummenigge, Rudi Völler, Jürgen Klinsmann und Miroslav Klose. Keine Frage, dass auch die robusten Träger des Bundesadlers europaweit Maßstäbe setzten: Karl-Heinz Schnellinger, Georg Schwarzenbeck, Hans-Peter Briegel, Karlheinz Förster, Guido Buchwald, Jürgen Kohler, Christoph Metzelder: Fast alle Spieler dieser Kategorie waren zu ihrer Zeit in europäischen Top-Klubs beschäftigt. Helmut Haller, Franz Beckenbauer, Günter Netzer und mit geringen Abstrichen: Bernd Schuster und Michael Ballack muss man nicht erwähnen, sie waren in ihrer Zeit Lichtgestalten des schöpferischen Fußballs. Zu allen Zeiten war das signifikanteste Kennzeichen des deutschen Fußballs die pragmatische Form des Angriffsspiels mit hochkarätigen Abschlussexperten. Stets war das Gestalten von einer kontrollierten Defensive geschützt, dennoch war die spielerische Komponente stärker als die reine Zerstörungskraft.
Giganten der spielenden Verteidiger
Und selbstverständlich gilt das auch für den Fußball der italienischen Nationalmannschaft, die wie die deutsche im Tor und in der Sturmmitte über viele Jahrzehnte herausragende Spieler in ihren Reihen hatte: Enrico Albertosi, Dino Zoff, Walter Zenga, Gianluigi Buffon; Luigi Riva, Gianni, Rivera, Roberto Boninsegna, Sandro Mazzola, Alessandro Altobelli, Paolo Rossi, Roberto Baggio, Francesco Totti, Alessandro Del Piero, Filippo Inzaghi. Der Unterschied zu den deutschen Sturmspitzen bestand und besteht darin, dass die italienischen Stoßstürmer stets auch kreative Arbeit im vorderen Mittelfeld leisten konnten (Ausnahmen: Christian Vieri und Luca Toni). Mit ihrer Qualität in der Abwehr in der Verzahnung mit dem defensiven Mittelfeld sind die italienischen Nationalmannschaften unerreicht: Tarciso Burgnich, Giacinto Facceti, Franco Baresi, Roberto Donadoni, Paolo Maldini, Alessandro Nesta waren und sind Giganten der „spielenden Verteidiger“.
Um es kurz zu machen: die Gentiles, Materazzis und Gattusos waren und sind nur Randerscheinungen des italienischen Fußballs, der in der kurzen Ära unter Ariggo Sacchi in den Neunzigern einen romantischen Ausflug in die Philosophie des rigorosen Offensivfußballs unternahm und heute unter Cheftrainer Cesare Prandelli seine hässliche Maske komplett abgelegt hat.
Die Kunst der Reduktion galt als todschick
Die Squadra Azzurra 2012 ist nach den Deutschen das Team mit den wenigsten Fouls und die einstigen Abwehrkünstler kamen bisher ohne ihren berüchtigten Minimalismus aus. Womit die kulturelle Differenz der beiden Fußballnationen beschreibbar wird: Die Kunst der Reduktion, also eine Führung ohne Spektakel zu halten, galt lange Zeit in Italien als todschick, während in Deutschland sich die Überlegenheit im Ergebnis auszudrücken hatte. Ein Spiel beherrschen und sicher nach Hause bringen heißt in Deutschland „verwalten“. Hierzulande gilt das als unfein, weshalb der italienische Fußball nicht nur wegen der traumatisierenden WM-Niederlagen 1970 und 2006 in Deutschland lange Zeit mit einer kollektiv gepflegten Verachtung belegt war. Heute geht diese Abneigung ins Leere. Badstuber, Hummels, Lahm, Schweinsteiger und auch Khedira sind die besseren Italiener. Alle haben in der Jugend im Sturm beziehungsweise sehr weit vorne gespielt und sind somit ständig auf der Suche nach einem öffnenden Pass. Sie sind technisch hochbegabte Kreativ-Verteidiger, die aus italienischen Fußballschulen stammen könnten. Heute Abend duellieren sich die beiden kreativsten und fairsten Mannschaften des Turniers. Im besten Sinne also ein Duell der Lämmer. Beide Trainer vertreten die gleiche Spielauffassung. „Gut spielen ist der beste Weg, um Spiele zu gewinnen“, so Cesare Prandelli. Dem ist nichts hinzuzufügen. Um 20 Uhr 45 ist Anpfiff. Italien trägt blaue, Deutschland weiße Trikots. Der Sieger trifft am Sonntag im Finale auf Spanien.