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Dienstag, 23.07.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

Eine kurze Geschichte der Zeit: 1966 bis 2014

Die Fußballweltmeisterschaft findet alle vier Jahre statt. Es gibt Menschen, die ihr Leben in den Phasen dazwischen organisieren und bewerten. In vier Jahren kann man ein Studium bewältigen, eine Berufsausbildung abschließen, Karriere machen oder eine Regierung kommen und gehen sehen. Alles fließt, nur im Jahr einer WM bleibt die Zeit stehen. In diesem Jahr verfolgt der Mensch den Flug des Balles und die damit verbundenen Gesetzmäßigkeiten des Triumphs und der Tragödie. Soziologen sprechen vom „letzten Lagerfeuer“ der Menschheit, vom letzten Ereignis, an dem sich die Menschheit gemeinsam wärmt. Doch das ist falsch. Die Fußballweltmeisterschaft ist zu einer Spielart des epischen Theaters geworden. Ein Theater der Welt. „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ Das Wort Schillers ist ein Lehrsatz der Aufklärung und der Ausgangspunkt einer Revolution, die den Blick auf uns selbst schärfen und somit den Lauf der Welt radikal verändern sollte. Am heutigen Montag werden die 23 Spieler bekannt gegeben, die in Brasilien etwas vertreten werden, das niemand so genau beschreiben kann. Sicher ist nur, dass wir uns irgendwie damit identifizieren.

Eintrittskarte für das Endspiel 74 in München. Preis für einen nicht nummerierten Stehplatz: 15 Mark

Von Siegfried Zagler

Die Geschichte des modernen Fußballspiels beginnt 1966, als die englischen Außenverteidiger damit anfingen, die Außenbahnen bis zur Grundlinie des Gegners zu bearbeiten und Bobby Moore einen spieleröffnenden Innerverteidiger gab und somit die Idee des Liberos in die Welt setzte. Zum ersten Mal in der Geschichte des Spiels erlebte man einen erkennbaren „Systemsprung“.  Der englische Trainer Alf Ramsey wurde von der Queen im Jahr nach dem englischen Titelgewinn in den Adelsstand erhoben. In der Moderne wie in der Antike ist es die Tragödie, die uns stärker berührt als die Höhen des Erfolges. Aus diesem Grund wurde das „Wembley-Tor“, ein finales Tor, das keines war, das berühmteste Tor in der Geschichte des Turniers.

Vier Jahre später sprach man im Flüsterton von verschiedenen Spielsystemen. Italien besiegte im Halbfinale in der mexikanischen Nachmittagshitze eine hochbegabte deutsche Mannschaft nach Verlängerung mit 4:3. Es war das Spiel des Turniers und eine Tragödie für die deutsche Mannschaft, die in letzter Sekunde zum 1:1 ausglich, um in der Verlängerung dramatisch zu verlieren. In Deutschland spricht man heute noch von „dem Jahrhundertspiel“. Im Finale erzielte Pele eines der schönsten Kopfballtore. Brasilien gewann das Turnier zum dritten Mal und durfte die „Coupe Jules-Rimet“ behalten. Brasilien kam anschließend fast ein Vierteljahrhundert nicht mehr ins Finale, während in den folgenden Jahren der deutsche Fußball Maßstäbe setzte.

Im Jahre 1974 fand die WM zum ersten Mal in Deutschland statt. Westdeutschland befand sich mitten in einem kulturellen Umbruch. Es war die erste WM, bei der die deutschen Spieler mehr waren als Befehlsempfänger. Franz Beckenbauer hatte ein Wörtchen bei der Mannschaftsaufstellung mitzureden, wie man Jahre später erfahren sollte. Deutschland gewann den World Cup nach dem „Wunder von Bern“ zum zweiten Mal. Das Team der Niederlande sollte mit Johann Cruyff neue Maßstäbe setzen: „Fußball total“. Und dennoch waren die Deutschen mit ihren Jahrhundertgenies im Zentrum (Gerd Müller und Franz Beckenbauer) einen Tick besser.

Die 78er WM in Argentinien hätte nie stattfinden dürfen. Überall im Land gab es Konzentrationslager.  Argentinien befand sich im Würgegriff eines Militärregimes. Es wurde gefoltert und tausendfach gemordet. Dass einige argentinische Spieler und namentlich Trainer César Luis Menotti keine Anhänger der Despoten waren, ist im Nachhinein das Positive dieser Skandal-WM. Menotti hatte nach dem Titelgewinn die Stirn, dem Präsidenten den Handschlag zu verweigern.

Im Jahre 1982 sollten sich die „Schande von Gijón“ und das brutalste Foul in der Geschichte dieses Turniers in das kollektive Fußball-Gedächtnis brennen. Der deutsche Torhüter Harald Schuhmacher sprang Patrick Battiston in die Ohnmacht. Deutschland erreichte nach einem dramatischen Halbfinale gegen Frankreich (3:3) nach Elfmeterschießen das Finale und ging gegen Italien sang- und klanglos unter. Hand auf’s Herz: Wer kann sich noch an einen italienischen oder einen französischen Spieler erinnern? Patrick Battiston sollte mit seinem Leid zum Spieler für die Erinnerung werden.

1986 sollte sich in Mexico die „Hand Gottes“ einmischen. Argentinien schaltete im Viertelfinale mit einem wie berauscht aufspielenden Maradona England aus. „Spieler X machte den Unterschied.“ Diese Reporter-Floskel sollte in diesem Turnier auf Maradona zutreffen, der mit seiner Genialität Argentinien zum zweiten Titelgewinn führte. Im Endspiel schien den Argentiniern nach einer 2:0 Führung die Luft auszugehen. Die Deutschen konnten mit 2:2 gleichziehen, doch ein genialer Pass Maradonas aus der Tiefe des Raumes entschied das Spiel.

1990 sollte eine Mannschaft gewinnen, der man im Vorfeld des Turniers wenig zutraute, nämlich die deutsche. Lothar Matthäus, Rudi Völler, Jürgen Klinsmann, Guido Buchwald und Andy Brehme waren in der Form ihres Lebens und schalteten im Achtelfinale in einem berauschenden Spiel die Holländer aus. Team Oranje war Turnierfavorit und stellten wie in den siebziger Jahren eine Mannschaft mit überragenden Einzelspielern. Deutschland sollte der erste Titelgewinner werden, dem ab dem Viertelfinale kein Feldtor mehr gelang.

1994 gewann Brasilien ebenfalls mit einer starken Abwehr und nur drei Gegentoren das Turnier, das erstmalig in einem fußballerischen Entwicklungsland ausgetragen wurde. In Los Angeles entschied ein Elfmeterschießen das Finale. Ein Genie sollte versagen: Roberto Baggio hämmerte das Leder über das Gebälk.

1998 war das Jahr von Zinédine Zidane. Er zauberte die Franzosen zu ihrem ersten Titel. In Paris gab es vor dem Finale ein Rätselraten um den brasilianischen Superstar Ronaldo, der mit einer seltsamen Spontanerkrankung zu kämpfen hatte und wie die gesamte brasilianische Mannschaft im Finale weit unter seinen Möglichkeiten blieb. Ronaldo, damals 23 Jahre, sollte sich nach der WM von einer Knieverletzung zur anderen plagen. Erst 2002 in Südkorea/Japan war er wieder im Zenit seines Leistungsvermögens und gewann mit Brasilien gegen eine deutsche Mannschaft, die auf Augenhöhe mitspielte, vorher aber mit viel Glück und einem überragenden Oliver Kahn das Finale erreichte. Dort sollte Kahn mit zwei folgenreichen Patzern zur tragischen Figur werden.

2006 fand die WM zum zweiten Mal in Deutschland statt. Es war ein heißer Sommer und Deutschland sollte als Austragungsort, besser: als Kultur- und Fußballnation einen großen Imagegewinn erzielen. Sportlich blieb das DFB-Team mit ihren beiden Trainer-Greenhorns Jürgen Klinsmann und Jogi Löw im Halbfinale auf der Strecke. Im Endspiel sollte der Kopfstoß von Zidane (Frankreich) gegen Marco Materazzi (Italien) im Gedächtnis der Welt haften bleiben.

Die WM 2010 fand in Südafrika statt. Deutschland schied im Halbfinale gegen die beste Mannschaft (Spanien) des Turniers aus. Im Finale schlugen sich die Holländer ausgezeichnet und hätten das Match mit ihren Kontern vermutlich gewonnen, hätte Robben seine Chancen genutzt. In Spanien wurde damals eine merkwürdige Theorie entwickelt, die bis heute in den Köpfen einiger Trainer herumspukt: Der Sinn des Spiels bestehe darin, den Ball zu haben.

Am 12. Juni 2014 bleibt die Zeit auf der Normaluhr stehen. Sollte sich kein Todesfall in der Familie oder im Freundeskreis ereignen, läuft das übrige Leben im WM-Modus. Das Wunder dauert über einen Monat: Am 13. Juli wird im 64. Spiel dieses Turniers der Titel ausgespielt. Natürlich ist Brasilien als Gastgeber haushoher Favorit. Die Seleção steht dieses Mal unter besonders hohem Druck. Sollte sie versagen, könnte sich das Unbehagen der brasilianischen Bevölkerung mit dieser WM in Massenproteste verwandeln. Mit den Mitteln, die Brasilien in die WM investiert, hätte man viele Probleme lösen können. In vielen Städten gibt es keinen öffentlichen Nahverkehr, das Bildungssystem und das Gesundheitssystem liegen am Boden. Die Schere zwischen Arm und Reich geht nirgendwo so weit auseinander wie Brasilien. Der Fußball habe seine Seele an die FIFA verkauft, so der Vorwurf der Bürgerbewegungen, die zu jedem Spiel Proteste angekündigt haben. Auf zirka 10 Milliarden Euro sind die Baukosten für die Stadien gestiegen, was mit der allgegenwärtigen Korruption und Misswirtschaft zu tun habe.

Das Maracana-Stadion in Rio war ein Stadion des Volkes. 200.000 nicht nummerierte Stehplätze mit für jedermann erschwinglichen Eintrittspreisen. Das Stadion wurde nach FIFA-Auflagen umgebaut. Nun gibt es nur noch 80.000 Sitzplätze, die sich in Rio nur noch die Reichen leisten können. Es gilt das Prinzip, dass das Land die Kosten trägt und die FIFA die Gewinne abschöpft. Alles wird wohl in den Hintergrund rücken, wenn der Ball zu rollen beginnt. Die deutsche Mannschaft gehört zusammen mit den üblichen Verdächtigen zu den Topfavoriten. Seit 1966 fanden zwölf WM-Turniere statt. Die Mannschaft mit dem Bundesadler war dabei neunmal erfolgreich: Sechsmal stand sie im Finale (66, 74, 82, 86, 90, 2002). Zweimal gewann sie das Turnier (74 und 90). Dreimal kam sie bis ins Halbfinale (70, 2006, 2010). Das ist eine einzigartige Bilanz, die in diesem Jahr ihre Fortsetzung finden sollte. Dass es für den ganz großen Erfolg nicht reichen wird, ist ein Allgemeinplatz, den der Autor dieser Zeilen teilt. Die WM 2014 wird in der DAZ angemessen reflektiert werden.