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Donnerstag, 18.04.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

Ein ÖPNV ist kein ÖPNV mehr, wenn er für viele Bürger zu teuer ist

Warum die Debatte um das Sozialticket bedeutsam ist

Kommentar von Siegfried Zagler

I

Die Stadt Augsburg hat sich vom Verwaltungsgericht Augsburg hinter die Ohren schreiben lassen müssen, dass ihre Art der Vergabe beim Sozialticket gegen das Gleichheitsprinzip verstößt. Der Stadtrat hatte sich  beim Sozialticket in eine Regelung verrannt, die den größten Teil der sozial bedürftigen Bürger der Stadt Augsburg ausschließt. Von zirka 27.000 auf Arbeitslosengeld und Sozialhilfe angewiesenen Bürgern wurden vom Stadtrat zirka 7.000 Bürger als Leistungsempfänger für ein Sozialticket bevorzugt. Die „Kunden“ der Jobcenter, also auch Alleinerziehende ohne Anstellung, sind von der Stadt aussortiert worden. Es sei die Aufgabe der Stadt Augsburg, den Haushalt so zu gestalten, dass wir uns ein Sozialticket für alle sozial Bedürftige leisten können, so der heutige Integrationsreferent Reiner Erben (Grüne), der damals (wir sprechen vom 30. Januar 2014) von dem heutigen Sozialreferenten Stefan Kiefer (SPD) flankiert wurde: „Das, was Sie wollen, ist kein Sozialticket. Ein Sozialticket ist das, was die Armutskonferenz der lokalen Agenda fordert.“ Kiefer meinte mit „Sie“ die Fraktionen der CSU, der CSM und von Pro Augsburg, die an diesem Tag die Mehrheit im Stadtrat hatten und sich mit ihrer Beschluss-Variante knapp durchsetzten. Ein Beschluss, der  vom Verwaltungsgericht kassiert wurde.

II

Bei der damaligen vom Stadtrat verabschiedeten Kompromiss-Lösung der CSM darf man weder im formalen noch im politischen Sinn von einem Sozialticket sprechen. Formal ist es einfach erklärbar: Wenn 70 Prozent der sozial bedürftigen Menschen ausgeschlossen werden und das neue Ticket nur für einen kleinen Personenkreis gilt, dann handelt es sich nicht um ein Sozialticket, sondern um eine zusätzliche Ticket-Kategorie im ohnehin kaum durchschaubaren Preisdschungel der Stadtwerke. Man dürfe nicht pauschal gegen die Augsburger Verwaltungsrichtlinien verstoßen und Gleiches ungleich behandeln, so das Verwaltungsgericht in seiner mündlichen Urteilsbegründung.

III

Im politischen Sinn durfte und darf  man  bei der aktuellen Regelung ebenfalls nicht von einem Sozialticket sprechen, weil es sich damals  nicht um ein Einstiegsticket handelte, das man im Lauf der Zeit mit den gemachten Erfahrungswerten erweitern wollte, sondern um eine Ticket, das aus der Sicht der Stadträte der CSU, der CSM und Pro Augsburg eine Grenze markiert. Es handelt sich dabei um eine sozialpolitische Grenze, die in erster Linie in den Köpfen der Politiker existiert, aber leider nicht nur ausschließlich dort. Am deutlichsten beschrieb Oberbürgermeister Kurt Gribl den Verlauf dieser Grenze.

IV

Das Sozialticket gilt nämlich nicht für Lidl-und Aldi Verkäuferinnen, die „mit einem dicken Hals durch die Stadt gehen, weil andere alles geschenkt bekommen“, so Kurt Gribl in der damaligen Debatte. Augsburgs Oberbürgermeister wollte damit zum Ausdruck bringen, dass es eine erkennbare Differenz zwischen Arbeitenden und Arbeitssuchenden geben muss. Könnten sich Nichtarbeitende beinahe das Gleiche leisten wie im Niedriglohnbereich Beschäftigte, wäre etwas faul im Staate Dänemark, so die Denkungsart des Augsburger Oberbürgermeisters. Eine Anschauung, die sich am Falschen orientiert, als wäre das Falsche (in diesem Fall der Niedriglohn) eine unveränderbare Konstante wie die Schwerkraft. Der Grundsatz, dass sich Arbeit lohnen müsse, hat als ethische Prämisse in einer Leistungsgesellschaft, deren Statusorientierung an Arbeit und Eigentum ausgerichtet ist, zu gelten. Gegen diese Haltung wäre schwer ins Feld zu ziehen, wenn sich der Niedriglohnsektor nicht dergestalt nach unten entwickelt hätte, dass sich ein großer Anteil der Vollzeitbeschäftigten ein normales Leben nicht mehr leisten kann. Die Regelsätze für Sozialhilfe haben sich nicht dergestalt erhöht, dass sie sich den Vollzeitbeschäftigten im Niedriglohnsektor nähern, es ist umgekehrt: Die Niedriglöhne nähern sich den Regelsätzen. Das gilt inzwischen auch für den ersten Arbeitsmarkt. Auf diese dramatische Entwicklung hat der Gesetzgeber reagiert, indem er zum 1. Januar 2015 ein Gesetz zum Mindestlohn einführt.

V

Dass die Kommunen durch den von der Agenda 2010 eingeleiteten Niedergang der Sozialethik der Bonner Republik stärker belastet werden, ist nichts Neues. In NRW werden wegen klammer Kassen der Kommunen die Sozialtickets teurer. Im Osten der Republik wurden Sozialtickets wegen knapper Kassen in verschiedenen Kommunen abgelehnt. In Bayern gäbe es dafür noch Gestaltungsspielräume. Auch in Augsburg, wo aber die Mehrheit im Stadtrat ein klares Bekenntnis zu einem Sozialticket aus einer überholten weltanschaulichen Haltung heraus ablehnt hatte. Kurt Gribl hat es mit seiner Kommentierung möglicherweise ungewollt beschrieben: Die Not der Menschen existiert im Kopf. Neid ist eine Unterart der Not. Das gilt gleichermaßen für Niedriglohnempfänger, Sozialhilfeempfänger, Scheinselbständige und finanziell schlecht gestellte Familien, deren Stigmatisierung darin besteht, dass ihre Konsumfähigkeit nicht ausreicht, um genügend gesellschaftlichen Respekt und Anerkennung einzufahren. Diese Stigmatisierung wird mit einem Sozialticket, das Not und Armut klassifiziert, möglicherweise sogar verschärft.

VI

Gegen die Stigmatisierung von Arbeitslosigkeit und Armut hilft nur eine andere, eine tiefere gesellschaftliche Bewertung von Arbeit und Leben. Die politische Kaste hätte auf lokaler Ebene die Möglichkeit in dieser Hinsicht etwas ganz Einfaches zu sagen: „Ein ÖPNV ist kein ÖPNV mehr, wenn er für einen großen Teil unserer Stadtgesellschaft zu teuer ist. Das wollen wir nicht. Das werden wir ändern.“ Dass der Augsburger Stadtrat dazu eine zweite Chance bekommt, ist zu begrüßen.