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Freitag, 07.03.2025 - Jahrgang 17 - www.daz-augsburg.de

Ein Mann von Ehre und eine Frau von morgen

Premiere: Lessings „Minna von Barnhelm“

Von Frank Heindl

Den „Reiz, sich einem alten Schinken hinzugeben“, den Regisseurin Anne Lenk – ironisch, selbstverständlich! – laut Programmheft verspürte, als sie Gotthold Ephraim Lessings „Minna von Barnhelm“ für das Theater Augsburg inszenierte – diesen Reiz scheinen viele Augsburger nicht so recht empfunden zu haben: eher fürchteten sie womöglich den „alten Schinken“. So blieben bei der Premiere viele Sitze frei – doch die Skeptiker haben einiges verpasst, denn Lenks burleske Inszenierung haucht Lessing viel neues Leben ein.

Agil wie ein Wirbelwind, dabei klug und witzig: Minna von Barnhelm (Judith Bohle, links) und Zofe Franziska (Lea Sophie Salfeld) zeigen den Männern, wo\'s langgeht.

Agil wie ein Wirbelwind, dabei klug und witzig: Minna von Barnhelm (Judith Bohle, links) und Zofe Franziska (Lea Sophie Salfeld) zeigen den Männern, wo\'s langgeht.


Nahezu schwarz-weiß hat die Regisseurin zusammen mit Marc Bausbach (Bühne) und Silja Landsberg (Kostüme) die 1767 uraufgeführte Komödie auf die Bühne gebracht. Vorne erstrahlen, von vielen Scheinwerfern beleuchtet, fast alle Handelnden in weißen Gewändern. Doch nach hinten wird die Bühne von einem Vorhang begrenzt – und was sich hinter diesem abspielt, sieht das Publikum nur im schwarzen Schattenriss: In makellose schönen Bildern zeigen sich grotesk umgekehrte Größenverhältnisse, die Großen werden da gelegentlich ganz klein, die Kleinen trumpfen auf. Doch nie für lange: Die Bühne dreht sich meistens, und ihre Bewohner müssen pausenlos anrennen gegen dieses Schicksalsrad, das ihnen ständig den Boden unter den Füßen wegzuziehen droht. Lessings Personal ist dem Umbruch ausgesetzt, hat’s nur noch nicht so recht bemerkt.

Major von Tellheim vor allem nicht. Er ist der einzige, der nicht in blütenweißer Tracht, sondern im schwarzen Büßergewand auftritt. Seine „Ehre“ glaubt Tellheim verloren zu haben, weil der König ihm nach Kriegsende Korruption unterstellt. Kein Amt, kein Geld, kein Personal und dann auch noch ein gelähmter Arm – so wird ein starker Mann zum Nichts. Und solch ein Mann kann selbstverständlich keine ehrbare Frau heiraten. So weist er Minna von Barnhelm kategorisch ab, die ihm nachgereist ist, die ihn liebt und die er natürlich auch liebt – Männer haben’s schwer, Prinzipienreiter noch schwerer.

Minna von Barnhelm – eine Frau von morgen

Minna allerdings ist nicht von gestern. Auch nicht von heute: Eher hat Lessing anno 1775 die Frau von morgen entworfen: Eine kluge, witzige und gewitzte Person, der es auf die Liebe ankommt und nicht auf die Konventionen. Hat der Major kein Geld – nun denn, sie hat ja selbst genug und alles andere wird sich finden. Ein Vorteil auch, dass die Weiblichkeit im Team auftritt: Minnas Zofe Franziska ist ebenfalls nicht auf den Mund gefallen, gemeinsam fädelt man Intrigen ein, um den Major eines Besseren zu belehren, verheddert sich zwischendurch in den eigenen Fallstricken – und am Ende wird trotzdem alles gut.

Männer haben\'s schwer: Major von Tellheim (Nicholas Reinke) bleibt schwarz gewandet und depressiv auch noch, als Minna ihren Krinolinenpanzer längst abgestellt hat (Fotos: Nik Schölzel).

Männer haben\'s schwer: Major von Tellheim (Nicholas Reinke) bleibt schwarz gewandet und depressiv auch noch, als Minna ihren Krinolinenpanzer längst abgestellt hat (Fotos: Nik Schölzel).


Lenk versucht nicht, Lessings Stoff in die Gegenwart zu holen. Stattdessen macht sie aus seiner Komödie eine zeitlose Groteske: Da ist der schmierig-unsympathische Wirt (Martin Herrmann), den sie mit einem absurd-unmäßigen Kugelbauch ausgestattet hat – und der trotz seiner Fettleibigkeit wendig und quirlig ist wie ein Kind, von früh bis spät eifrig auf seinen Vorteil bedacht und sich seiner Lächerlichkeit nicht im Geringsten bewusst. Und da ist vor allem die Zofe Franziska (Lea Sophie Salfeld), die einer hyperaktiven 16-Jährigen gleicht. Ihr gehört der Abend, sie ist ein einziger, mit Frechheit und Aufsässigkeit garnierter Redeschwall ohne Ende, und sie ist permanent in Bewegung – wenn es nichts zu tun gibt, macht sie eben Situps und Liegestützen. Dazu kommen, ebenfalls ganz in Weiß, Just (Anton Koelbl), der stets missmutig-wütende Diener des Majors, und der Wachtmeister Paul Werner (Alexander Darkow), stets bemüht, mit einem grellen Scheinwerfer Licht ins mentale Dunkel der Handelnden zu bringen und doch gedanklich schon auf dem Weg in den nächsten Krieg.

Poetische Momente der Einsamkeit

Mitten in diesem hektischen Durcheinander: Minna von Barnhelm (Judith Bohle). Lenk lässt sie meist Teil des wirbelnd-mitreißenden Chaos‘ rundherum sein, lässt sie sexy im Negligé eine natürliche Weiblichkeit ohne Hintergedanken, aber auch ohne Wenn und Aber darstellen – und stellt sie später in plötzlicher Stille ganz allein in die Mitte der Bühne. Diese Momente der Einsamkeit sind auch Momente poetischer Sinnlichkeit: Fast schon ein Monument von Frau ist Minna da, eine Statue von Stärke und Zerbrechlichkeit – eine, die mit Spaß, Wagemut und Kampfeslust auch um ihr Überleben als Frau in der Männergesellschaft kämpft, gehüllt in die Rüstung der Krinoline, die sie später ganz sachlich wie ein Werkzeug neben sich abstellen wird. (Und diese Momente wären noch poetischer, wenn Tonregie und Bohles zu leise Stimme es nicht oftmals sehr erschweren würden, ihren Text zu verstehen.)

Nicholas Reinke als Major von Tellheim muss sich lange gegen jede Art von Rationalität wehren. Ein Mann von Ehre ist er, seinen und den Prinzipien seiner Gesellschaft willenlos ausgeliefert. Die Intrigen der Frauen, die Argumente seiner Freunde – sie helfen nicht gegen verinnerlichte Prinzipien, deren Sinn er selbst nicht erklären kann. „Die Ehre ist – die Ehre“ – diese Erklärung Minnas ist berühmt geworden: Gegen Tautologien kann man nicht argumentieren. Als schließlich alle Knoten sich gelöst haben, als Tellheim wieder wohlhabend ist, in Amt und Würden, vom König rehabilitiert und im Begriff, seine Minna zu ehelichen, ist daher eines zweifelhaft: Ob der Major eigentlich gelernt hat aus seinen Fehlern. Oder ob er bei nächster Gelegenheit wieder eher auf sein Lebensglück verzichten würde als zuzugeben, dass sich manche Kategorien der Moral überleben, nicht nur während, sondern auch weil die Männer in den Krieg ziehen, um sie zu erhalten. Anne Lenk hat auch dazu ein Bild gefunden: Als alles vorüber ist und das Publikum schon zu applaudieren beginnt, dreht sich die Bühne noch einmal – bis vorne am Rand Tellheim zu liegen kommt, abgerissen und deprimiert wie am Anfang. Hat sich in Wahrheit gar nichts verändert? War Lessings Happy End letztendlich nur ein Traum?

Die kurze Schlussszene weist noch einmal darauf hin, dass Lenks Inszenierung den Anteil der Komödie an Lessings Stück klein gehalten hat. Um der Erkenntnis willen hat sie manchen Lessingschen Witz ausgelassen und dabei auch ein paar Längen riskiert – insgesamt ein lohnendes Wagnis. Viel Applaus und ein paar verdiente Bravos für Lea Sophie Salfeld.