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Dienstag, 23.04.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

Dürrenmatts Kleinbürger – das sind wir

Premiere: „Der Besuch der alten Dame“ im Großen Haus

Von Frank Heindl

Strahlende Selbstgerechtigkeit: Die Damen (Philipp von Mirbach und Eberhard Peiker) brezeln sich auf, der Herr steigt auf teurere Zigaretten um (Toomas Täht), Albert Ill (Walter Galas im Hintergrund) macht gute Miene zum bösen Spiel und muss wenig später dran glauben.

Strahlende Selbstgerechtigkeit: Die Damen (Philipp von Mirbach und Eberhard Peiker) brezeln sich auf, der Herr steigt auf teurere Zigaretten um (Toomas Täht), Albert Ill (Walter Galas im Hintergrund) macht gute Miene zum bösen Spiel und muss wenig später dran glauben.


Den ersten Lacher hat Toomas Täht für sich. Mit seinem Auftritt beginnt die Augsburger Inszenierung von Friedrich Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“. Der Autor sieht hier eigentlich vier Personen vor – und vielleicht ist das der Grund, wieso Täht proletenhaft, ungehobelt und vulgär für vier sein muss. Er lümmelt im Morgenmantel herum, trinkt Dosenbier, puhlt zwischen seinen Zehen, bohrt in der Nase – da wird noch gelacht – und kratzt sich am Hintern – da ist es schon zu viel.

Die Bewohner der Kleinstadt Güllen sind von Dürrenmatt nicht per se als lächerliche Figuren gedacht. Kleine Leute eben, denen das Wasser bis zum Hals steht: Arbeitslosigkeit, Pleiten, Niedergang – kaum ein Zug hält mehr hier. Bis dann die „alte Dame“ eintrifft, Claire Zachanassian (Eva Maria Keller), geb. Wäscher. Der allseits beliebte Albert Ill (Werner Galas), derzeit Kandidat für das Bürgermeisteramt, hatte sie vor vielen Jahren geschwängert, dann aber eine andere geheiratet und Claire als Flittchen denunziert. Claire ihrerseits hat reich geheiratet und kehrt nun zurück, um auf ihre Art Gerechtigkeit zu fordern: Eine Milliarde für Güllen und seine Bewohner, so ihr Angebot, gegen den Tod von Ill. Den Sarg hat sie schon mitgebracht.

Wie nun diese Kleinstädter zunächst entrüstet ablehnen, dann aber allmählich dem Gedanken an das ganz große Geld erliegen – das ist der „komische“ Anteil dieser Tragikkomödie: Wie sie sich allmählich zu Handlangern und Gesinnungsgenossen der Milliardärin machen, wie sie – vom Polizisten bis zum Pfarrer, vom erklärten Humanisten bis zum Schnaps trinkenden Proletarier – ihre Grundsätze nach und nach über den Haufen werfen, um schließlich guten Gewissens einen Mord im Namen der „Gerechtigkeit“ begehen zu können. Die Anstifterin muss gar nichts mehr dazutun: Sie sitzt oben auf den sieben Stufen von Franziska Bronkamms Bühne und genießt den Lauf der Dinge – Beobachterin und Herrscherin in einem.

Eine eingefügte Szene bleibt Fremdkörper

Noch ist der Sarg leer. Die Rächerin Claire Zachanassian (Eva Maria Keller) und ihr Butler und Richter (Anton Koelbl). Fotos: A.T. Schaefer

Noch ist der Sarg leer. Die Rächerin Claire Zachanassian (Eva Maria Keller) und ihr Butler und Richter (Anton Koelbl). Fotos: A.T. Schaefer


Wie der Kleinbürger für ein paar materielle Vorteile seine moralischen Maximen preisgibt – das ist eines von Dürrenmatts Themen. 1956, als er das Stück schrieb, waren die Erinnerungen an Nazideutschland noch lebendig, war der strenge moralische Appell des Stückes auch ein lauter Vorwurf an die Zuschauer. Diese nur scheinbar verloren gegangene Aktualität versucht Regisseur Fabian Alder mit einer eingefügten Zwischenszene wieder herzustellen: Die Schauspielerin Judith Bohle trägt ein Lob des Kapitalismus vor, dessen immanenten Lügen gar nicht so leicht zu erkennen sind – und genau aus diesem Grund als Gewissensberuhigung dienen können.

Doch die Szene bleibt ein Fremdkörper in Alders Inszenierung – sie macht vor allem deutlich, dass dem Regisseur keine inszenatorischen Mittel eingefallen sind, um Dürrenmatts Text ins Heute zu holen. So schablonenhaft vulgär, wie Toomas Täht zu Anfang agieren muss, so klischeehaft sind auch die anderen Rollen ausgeführt. Die Gemeinde stattet sich – in Vorwegnahme der großen Geldspende – mit Konsumgütern aus: Statt Schnaps wird nun Cognac getrunken, zunächst kauft man neue Schuhe, später auch Pelze. Man spielt Tennis. Man geht ins Kino. Und die Unterschicht trägt Krawatte – das sind Insignien des Aufstiegs, die Jugendliche verstehen, die seit Jahrzehnten mit Dürrenmatts Dramen ins Nachkriegstheater eingeführt werden. Alders Inszenierung wirkt über lange Strecken, als sehe sie hier ihr Zielpublikum.

Konsum als Volksverdummung – wie eh und je

Auch beim Argument des „billigen Atomstromes“ geht es um nicht viel mehr als um die unzähligen absurden Joghurtsorten, deren atemlose Aufzählung Olga Nasfeter als Ills Frau zu Recht stürmischen Szenenapplaus einträgt: Konsum als Selbstzweck und Massenverdummung. Doch während wir Zuschauer darüber lachen, schmelzen in Japan die Brennstäbe, ertrinken arabische Boatpeople vor den abgeriegelten Küsten Europas, exportiert Deutschland Waffen in die Länder, aus denen diese fliehen. Und vor den Kameras erklären Bürger und Politiker noch immer, dass all dies genau so sein muss – lauter Bewohner der Kleinstadt Güllen, die ihren Namen nicht zufällig trägt.

Dürrenmatt hat Recht wie eh – man hätte das deutlicher zeigen können. Am schlechtesten lassen sich die Parallelen aber demonstrieren, wenn die Handelnden von vornherein als sich am Hintern kratzende Proleten denunziert werden, wenn man uns Zuschauern gleich mal zeigt, dass wir selber die besseren Menschen sind. Dürrenmatts Stück hätte Möglichkeiten für erkenntnisorientierte Schärfe, für polarisierende Kritik geboten. In einer mutigen Inszenierung wäre uns das Lachen im Hals stecken geblieben, anstatt sich an harmlosem Gehampel auszulassen. Güllen, das hat Regisseur Alder eine Woche vor der Premiere betont, habe Dürrenmatt nicht in der Schweiz lokalisiert. Er habe von einer süddeutschen Kleinstadt gesprochen: „Das ist hier!“, hatte Alder betont. Dürrenmatts Kleinbürger, diese Erkenntnis hätte dazugehört, das sind wir.