Kommentar
Die Untergeher – Was Joachim Löw mit Horst Seehofer verbindet
Joachim Löw ist nur ein weiterer Fall auf einer langen Liste von Fehlbesetzungen, während bei Horst Seehofers Fall eine klassische Intrige vorausgeht
Kommentar von Siegfried Zagler
Der eine kann auf eine veritable Karriere als Politiker zurückblicken, der andere auf eine bemerkenswerte Karriere als Fußballtrainer. Beide sind Stoiker und beide stehen nun auf verlorenem Posten. Horst Seehofer ist ein Opfer, Joachim Löw ist ein Irrtum. Doch beide haben aus erhöhten und unangreifbaren Positionen auf unvergleichliche Weise an ihrem Untergang mitgearbeitet, ganz so als spielten sie Rollen, die von Dostojewski oder Shakespeare erschaffen wurden.
Seehofer wurde von Markus Söder aus dem Ministeramt gekegelt und nach Berlin “versetzt”, wo er nun nicht nur am eigenen Untergang arbeitet, sondern auch die Bundesregierung zersetzt. Ob das nun gut oder schlecht ist, soll an dieser Stelle nicht erörtert werden. Dass aber die Zurückweisung von bereits in anderen Ländern registrierten Flüchtlingen zu einer Frage von Leben oder Tod einer Bundesregierung werden konnte, wird in späteren historischen Rückblicken als “Ironie einer verfahrenen Situation” bezeichnet werden. Schließlich ermöglicht der Nichtrücktritt Seehofers die Auferstehung einer Untoten. Gemeint ist die Bundeskanzlerin, die nach der Bundestagswahl als geschwächte Führungsfigur in Krücken dastand und nun, wie eh und je bei der Umschiffung eines Problems zur alten Stärke zurückzufinden scheint.
Ein Rücktritt löst keine Probleme, macht aber den Weg frei für Lösungen, die in diesem Fall mit einem Narrativ versehen werden könnten, das von Beginn bis zum Schluss Angela Merkel zur gestrauchelten aber nicht gestürzten Heldin stilisieren würde. Das fortlaufende Drama der aktuellen Bundesregierung ist ein Ringen zwischen humanitärer Flüchtlingspolitik und nationalen Regulierungsansprüchen.
Dass der nationale Rechtsstaat wegen Merkels Flüchtlingspolitik den Bach hinuntergehen soll, ist wiederum eine Erfindung der AfD, die mit teuflischem Gelächter diesen Schaukampf begleitet und als lachender Dritter aus diesem Abnutzungskonflikt der C-Parteien hervorgehen wird. Das ist neben dem ungelösten Elend der Geflüchteten der große Schmerz, der kaum zu betäuben ist, wenn man an “Deutschland denkt – in der Nacht”.
Gegen Schlaflosigkeit aus Nachdenklichkeit und Analyse-Zwang kann Ablenkung helfen. Auch die Zeit, die unbeteiligt verrinnt, ist ein großer Heiler. Dieses Urwissen scheint das wichtigste Instrument der DFB-Spitze in Sachen Krisenmanagement zu sein.
Doch der Schmerz über das Ausscheiden der deutschen Mannschaft lässt nicht nach, sondern wird stärker je länger die Weltmeisterschaft in Russland dauert. Die fulminanten, kampfumtosten und hochdramatischen Achtelfinalspiele der anderen treiben den Stachel des Unbehagens immer tiefer in die Wunde, die der DFB-Trupp in die Herzen der deutschen Fußballgesellschaft gerissen hat. Grindel, Bierhoff und Co. sind in Russland zu Witzfiguren mutiert, die in der endlosen russischen Weite nicht nur ihren Kopf, sondern auch ihre Macht und ihr Ansehen verloren haben, wie es scheint.
Joachim Löw, darf im beschaulichen Freiburg über den Fortgang seiner erstaunlichen Karriere als Bundestrainer nachdenken und wird wohl wie Horst Seehofer von einem Rücktritt Abstand nehmen. Unabhängig von ihren Entscheidungen nehmen sie nach den unerhörten Vorgängen in Berlin und Kasan wieder ihre Verliererpositionen ein: Treten sie zurück, verlieren sie, bleiben sie, verlieren sie erst recht.
Helmut Schön wurde Bundestrainer, weil er Herbergers Assistent war. Jupp Derwall wurde Bundestrainer, weil er Schöns Assistent war. Franz Beckenbauer wurde Bundestrainer, weil er Franz Beckenbauer war. Berti Vogts wurde Bundestrainer, weil sich der DFB, nach dem Ausreißer mit der Schwatz-Kanone Beckenbauer, die immerhin im zweiten Anlauf Weltmeister wurde, mit der Turnvater-Vogts-Figur die Rückkehr in die Sicherheit der Verbandsnomenklatura erhoffte.
Vogts war vor seiner Nominierung immerhin elf Jahre Trainer in der Jugendabteilung des DFB. Hans Hubert Vogts trat zurück, weil die Bildzeitung eine Kampagne gegen ihn ritt. Vogts sollte von Paul Breitner ersetzt werden, der sich (wie Beckenbauer) als Bild-Kolumnist selbst vorschlug und sich quasi selbst feuerte, indem er seine telefonisch verabredete Nominierung „seiner“ Zeitung ausplauderte. Nach dem Breitner-Fehlschlag versuchte der DFB wieder innerhalb seiner Strukturen zu denken und griff mit dem angesehenen und erfahrenen Bundesliga-Gentlemen-Trainer „Sir“ Erich Ribbeck daneben.
Ribbeck, der zwischen 1978 und 1983 Assistenztrainer beim DFB war, konnte die Talfahrt der damaligen Nationalmannschaft nicht stoppen, sondern beschleunigte sie eher und sollte schwer beschädigt einem gewissen Christoph Daum weichen, also einem kokainabhängigen Selbstdarsteller. Nach Bekanntwerden und dem erfolglosen Leugnen seiner Krankheit verschwand Daum in der Versenkung. Breitner und Daum stolperten über sich selbst, was man auch über Rudi Völler sagen kann, der schließlich auf Ribbeck folgen sollte und immerhin als „Trainer der Herzen“ zurücktrat.
Jürgen Klinsmann wurde Bundestrainer, weil sich eine DFB-Findungskommission nach dem Völler-Rücktritt zwei Jahre vor der WM im eigenen Land ziemlich dumm anstellte – und sich mit einer schnellen Lösung von dem Spott der Medien befreien wollte. Joachim Löw wurde Bundestrainer, weil ihn Klinsmann zu seinem Assistenten machte und sich Klinsmann nach dem „Sommermärchen“ für Löw als Nachfolger einsetzte.
Ein halbes Jahrhundert Geschichte der deutschen Nationalmannschaft spiegelt nicht nur deren Erfolge und Misserfolge wider, sondern auch den unausgesprochenen Gesellschaftsvertrag, den der DFB mit seiner ersten Mannschaft von Dekade zu Dekade zu schließen hat. Herberger, Schön, Derwall und Vogts waren Vertreter des deutschen Biedermeier, der auch in den kaderhaft organisierten Vereinskulturen dieser Epochen seinen Niederschlag fand. Mit Beckenbauer, dem Fußballkünstler, brach der DFB aus dieser Spur aus, ohne dass Beckenbauer einen Nachweis einer Trainer-Tauglichkeit erbringen musste. Gleiches gilt für Rudi Völler und Jürgen Klinsmann, der gerade einen frisch erworbenen Trainerschein und einen Praktikumsplatz bei einem USA-Klub vorweisen konnte. Mit Beckenbauer, Völler, Klinsmann folgte der DFB dem Druck der Straße, die von der Bildzeitung vertreten wurde. Die Besetzung der Bundestrainer ist seit der Erfindung von Nationalmannschaften ohne Konzept und Verstand erfolgt.
Der DFB organisierte die Bestellung seiner wichtigsten Personalie bis in die Achtziger Jahre hinein mit einer monarchischen Thronfolge-Mechanik und wechselte zwischendurch ins Chaos einer populären Beliebigkeit, um schließlich bei einem Mann zu landen, der zehn Jahre auf beeindruckende Weise unter Beweis stellte, für das Berufsbild „Fußballtrainer“ kaum Begabungen zu besitzen.
Jogi Löw tingelte in knappen 10 Trainerjahren vor seiner DFB-Zeit durch acht verschiedene Vereine, von denen er sieben bereits nach einem Jahr wegen Erfolglosigkeit verlassen musste. Beim VfB Stuttgart gewann Löw den DfB-Pokal und sonst nichts, was dem damaligen VfB-Präsidenten Mayer-Vorfelder zu wenig war, weshalb Löw im zweiten Jahr vom VfB Stuttgart den Laufpass bekam.
Bevor Löw beim DFB anheuerte, war er auf der ungeschriebenen Liste der erfolglosen Vereinstrainer in Europa auf den vorderen Rängen. Als Bundestrainer erreichte er mit der deutschen Auswahl in fünf großen Turnieren jedesmal mindestens das Halbfinale, einmal das Finale und 2014 wurde Löw in Brasilien Weltmeister – mit einem Kader, von dem das erwartet werden durfte.
Joachim Löw wird wohl bis 2022 die deutsche Fußball-Nationalmannschaft trainieren. Dies sei das Ergebnis einer Telefonkonferenz des Präsidiums. Das gab der Deutsche Fußball-Bund kurz nach dem WM-Ausscheiden bekannt. Trotz seiner schwer nachvollziehbaren Kaderzusammenstellung, trotz aberwitzigen Aufstellungsfehlern und einer durchschlagenden Ideen- und Taktikarmut sieht der DFB offenbar keine Alternative zu Joachim Löw. DFB-Präsident Grindel ist es zu verdanken, dass Löws ohnehin bis 2020 datierter Vertrag noch vor der Russland-WM um zwei Jahre verlängert wurde.
Löw verfügt seit 2010 über die goldene Generation des deutschen Fußballs, die sich weit über 2018 hinaus halten sollte. Ähnlich wie Helmut Schön konnte und kann Löw aus dem Vollen schöpfen. Und Löw liefert (wie Helmut Schön) Talent-Verwaltung und vorgetäuschtes Understatement. Die deutsche Mannschaft war auch in Russland ein philharmonisches Orchester, das mit einem erstklassigen Dirigenten seine Spitze hätte halten können. Wäre Löw mehr als ein Blaskapellen-Dirigent, den der Zufall in einen Konzertsaal verschlagen hat, wäre das Konzert für die deutsche Mannschaft noch nicht zu Ende. Mit dem „Konzept Zufall“ lässt sich das “Phänomen Löw” zwar herleiten, nicht aber die Beliebtheit seiner Person erklären.
Löw ist eine Art “Bundestrainer-Schauspieler”, der aus der “Schwarzwaldklinik” entsprungen scheint und wie Professor Brinkmann alias Klausjürgen Wussow das Gute und Wahre des Fußballs in sich trägt. Löw lebt nicht in einer Welt, wo man falsch und richtig unterscheidet. „Sowohl als auch“ ist ein sprachliches Merkmal eines Denkens, das eine schöpferische Lesart eines laufenden Spiels nahezu ausschließt. Löw behauptet durch sein Handeln und sein Sprechen, dass jede Mannschaftsaufstellung funktionieren kann, dass jede Taktik funktioniert, auch die falsche – an einem guten Tag geht alles.
Die meisten Spieler, die in Kasan auf dem Platz standen, gehören zu den Besten ihres Fachs, sind Stammspieler in europäischen Topvereinen und im besten Fußballalter. Wenn der DFB tatsächlich einen Umbruch einleiten will, dann muss er zuerst bei sich selbst, beim Präsidium anfangen und bei Löw und Bierhoff aufhören. Doch soweit wird es nicht kommen. Wie Seehofer und Merkel werden Löw und Bierhoff einfach weitermachen. Wenn nicht Schwarzwaldklinik, dann eben Traumschiff.