GESELLSCHAFT
“Die Stadt ohne. Juden, Muslime, Ausländer, Flüchtlinge”
Das Jüdische Museum Augsburg Schwaben zeigt in Kooperation mit dem NS-Dokumentationszentrum München im Staatlichen Textilmuseum eine brisante Ausstellung zu der Frage, ob gegenwärtige gesellschaftliche Entwicklungen in Deutschland mit den Anfängen des Nationalsozialismus vergleichbar sind. Laut Eigenbeschreibung soll „Die Stadt ohne Juden, Muslime, Ausländer, Flüchtlinge“ dazu beitragen “Orientierung und Sensibilisierung für unser gegenwärtiges und zukünftiges Handeln zu finden“. Trotz vieler aufklärerischer Elemente gelingt dieses Vorhaben an entscheidender Stelle nicht.
Von Bernhard Schiller
Der verbrannte Kissenbezug zählt zu den bewegendsten Ausstellungsstücken. Noch immer zu sehen sind die Falten in dem einst von sorgsamen Händen zusammengelegten Leinen. Vermutlich lag es ordentlich aufgeräumt in einem hölzernen Schrank, in der Schublade einer Kommode. Vielleicht war es Bahide Arslan, die in diese Schublade griff, wenn sie die Betten ihrer Enkelinnen Yeliz und Ayşe frisch bezog. Die beiden Kinder und ihre Großmutter kamen in den Flammen ihres Hauses in der Ratzeburger Straße in Mölln ums Leben. Sie wurden von Neonazis ermordet, die im November 1992 mit Brandsätzen bewaffnet ein Pogrom veranstalteten. Verborgene Zärtlichkeit lässt sich durch dieses Exponat hindurch erahnen. Die Zärtlichkeit des Bandes zwischen einer Großmutter und ihren Enkeln. Die Zärtlichkeit eins Kissens, in dem Ruhe und Geborgenheit liegen. Eine Zärtlichkeit, die in unendlicher Ferne steht zu den Rohheiten, mit denen die Ausstellung im Textilmuseum weit unmittelbarer konfrontiert.
Etwa die Briefe an den Wiener Schriftsteller und Journalisten Hugo Bettauer (1872-1925), der von einem Nationalsozialisten ermordet wurde, lange bevor Hitler in Deutschland an die Macht kam. Bettauer war ein zur evangelischen Konfession konvertierter Jude und machte sich in den 1920er Jahren unter anderem für ein modernes Scheidungsrecht und die Straffreiheit von Homosexualität stark. Die Briefe seiner Gegner, im Textilmuseum im Original zu sehen, unterscheidet in Inhalt und Duktus kaum etwas von den elektronischen Hasskommentaren unserer Tage. Morddrohungen, unflätige Ausdrücke, Zynismus. Alles schon mal da gewesen. Die Universalgeschichte der Barbarei führt von der Tierhaut über die Schreibmaschine zum Touchscreen. Erinnert der Mord an Bettauer an den Mord am CSU-Politiker Walter Lübcke? War auch letzterer erst der Anfang? Die Ausstellung gibt sich in diesen Fragen zunächst bescheiden. Sie wolle nicht gleichsetzen, sondern durch einen „differenzierten historischen Vergleich“ „Ausschlussmechanismen der Mehrheitsgesellschaft gegenüber einer Minderheit“ aufzeigen. Zu diesem Zweck wird eine Sammlung von Dokumenten aus der nazistischen Vergangenheit und der post-nazistischen Gegenwart präsentiert: Wahl- und Propagandaplakate, Zeitungsartikel, Brettspiele, Aufkleber, Werbung. Ein original Demonstrations-Transparent von Pegida – „Wir sind das Volk!“
Der Titel der Ausstellung geht auf Hugo Bettauer zurück, dessen im Jahr 1922 erschienener Roman “Die Stadt ohne Juden” sich mit dem Problem der zunehmenden Judenfeindschaft in Österreichs Hauptstadt auseinandersetzte. In seiner Geschichte werden die Juden von der Mehrheitsgesellschaft zu Sündenböcken erklärt und aus Wien vertrieben. Anders als die historische Realität, findet Bettauers prophetische Satire noch ein gutes Ende. Die Juden dürfen zurückkehren, weil (so die Erläuterung im Ausstellungskatalog) der Wiener Mehrheitsgesellschaft klar geworden sei, “dass mit der jüdischen Bevölkerung auch all das gegangen ist, was eine Metropole ausmacht.” Die Intellektuellen waren weg, die Wirtschaft brach zusammen, “alles Moderne, Kosmopolitische hat Wien verlassen.” Bettauers Buch wurde zum Bestseller und nur zwei Jahre nach der Veröffentlichung verfilmt. Zwischen Großleinwänden läuft der Besucher im Textilmuseum durch Sequenzen der rekonstruierten Fassung des Films. Er wird Zeuge, wie Juden auf offener Straße schikaniert werden, wird hineinversetzt in die Mechanismen, die zur “Stadt ohne Juden” führ(t)en. Die Darstellungen zeigen den Niedergang einer Gesellschaft in wenigen Schlagworten: Stereotypisierung, Polarisierung, Empathieverlust, Brutalisierung, Sündenböcke, Ausschluss. Anhand dieser, vom Philosophen Theodor W. Adorno festgestellten, Merkmale werden Analogien sichtbar zwischen dem Damals und dem Heute, zwischen der Weimarer und der Berliner Republik.
Ein mit dem Davidstern bemalter Schweinekopf liegt vor dem koscheren Restaurant “Schalom” in Chemnitz. Nein, das Foto stammt nicht aus den unsäglichen Tagen im Spätsommer 2018, als die Granden der AfD im Gleichschritt mit Neonazis bei einem trügerischen Trauermarsch die endgültige Selbstentlarvung der ehemaligen Anti-Euro-Partei vollzogen. Das Foto stammt aus dem Winter 2006/ 2007. Das “Schalom” wird von Nazis anscheinend traditionell attackiert und die Tötung eines Deutschen durch einen Asylbewerber war ihnen nur willkommene Rechtfertigung des Rituals. Im Textilmuseum wird vorstellbar, was dieselben Typen im November 1938 mit dem Restaurant “Schalom” getan hätten und was sie wieder tun werden, wird ihnen nicht rechtzeitig Einhalt geboten. Die Ausstellung zeigt Pegida, AfD und ihresgleichen als zähnebleckende Zyniker und Demagogen, deren Kampagnen die Sprache von 1933 sprechen und deren Fußvolk statt Worten Taten sprechen lässt: in Chemnitz, in Kassel, in Halle. In Hanau.*
Ein bei dem besagten Fußvolk hoch geschätzter Autor ist Thilo Sarrazin. Sein Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ prangt im Textilmuseum einzeln hinter Glas. Signalfarbe rot. Die Art und Weise, wie die Ausstellung dieses Objekt präsentiert, verleiht ihm herausragende Bedeutung. War das im Jahr 2010 erschienene Konvolut nicht eines der Ausgangsmomente für die populistischen Bewegungen, unter denen Deutschland heute ächzt? Für Sarrazin wird der Niedergang Deutschlands mit der unkontrollierten Vermehrung vermeintlich minderwertigen Genmaterials vorangetrieben. Das unterscheidet ihn von denjenigen, die den Verfall eher in Empathieverlust und Stereotypisierung ausmachen. Und doch verbirgt sich zwischen den Buchdeckeln eine Analogie, die von den Initiatoren der Ausstellung vermutlich nicht bewusst gewollt, aber hergestellt wird.
Denn auch bei Sarrazin gelten die Juden als sozioökonomisch und kulturell besonders wertvolles Humankapital. Ohne solches Kapital „verdorfe“ eine Gesellschaft, wie im Ausstellungskatalog hinsichtlich Bettauers „Stadt ohne Juden“ erklärt wird. Auch Alexander Gauland bediente sich in seiner inkriminierten „Vogelschiss-Rede“ dieses Argumentationsmusters, als er „das deutsche Judentum“ als „Teil einer deutschen Heldengeschichte“ bezeichnete. Wer liegt nun richtig? Bettauer, der auf die Juden nicht verzichten will? Sarrazin, der auf die Juden nicht verzichten will? Oder etwa Gauland, der auf die Juden nicht verzichten will? Unter dem Eindruck des utilitaristischen Arguments, das Minderheiten nach ihrer Nützlichkeit für die Mehrheit beurteilt, leistet die Ausstellung dem Wunsch nach Aufklärung und Orientierung einen Bärendienst.
Für das Konzept der Menschenwürde ist es indes vollkommen unerheblich, welchen Platz in der sozialen Hierarchie jemand bewohnt, wie seine DNA unter dem Mikroskop aussieht und mit welchem Gott er seinen Schmerz teilt. Männliche, muslimische Quantenphysiker mit Kopftuch sind im Konzept der Menschenwürde genauso enthalten wie weibliche, jüdische Gemüsehändler ohne ordentlichen deutschen Schulabschluss. Indem die Ausstellung die Gleichheit von Juden, Muslimen, Ausländern und Flüchtlingen gegenüber dem nationalistisch-identitären Wahn artikuliert, gelingt ihr letztlich trotz des genannten blinden Flecks eine eindringliche Botschaft des Mitgefühls und der sozialen Teilhabe, die aktueller nicht sein könnte und die möglichst viele Menschen erreichen möge.
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*Aus aktuellem Anlass
Der letzte Satz dieser Rezension ist gerade geschrieben, als die ersten Meldungen zu dem mörderischen Anschlag in Hanau auftauchen. „Können wir noch zu Recht sagen: ‚Wehret den Anfängen‘ – oder sind wir in Wirklichkeit schon mittendrin?“ wird im Ausstellungskatalog gefragt. – Die Antwort schmerzt, aber sie ist unumgänglich. Wir sollten uns nichts vormachen. Von einem „Wehret den Anfängen!“ braucht niemand mehr zu sprechen. Es hat bereits begonnen. Der Staat muss nun seinen Aufgaben gerecht werden und mit der ihm vom Volk geliehenen Gewalt entschieden und tiefgreifend vorgehen gegen die Strukturen, aus denen solche Monster kriechen. Aber auch und ganz besonders muss die Zivilgesellschaft handeln, die in ihren Diskursen maßgeblich darüber bestimmt, welche Strukturen sich in ihr bilden. Nicht nur in den sozialen Netzwerken, sondern überall im wirklichen Leben. Und: im Wahllokal.
„Die Stadt ohne. Juden, Muslime, Ausländer, Flüchtlinge“
Staatliches Textil- und Industriemuseum Augsburg (tim)
Noch bis zum 29. März 2020