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Dienstag, 08.10.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

Die Not im Kopf

Warum die Stadt Augsburg beim Sozialticket schlecht aussieht

Kommentar von Siegfried Zagler

Die Stadt Augsburg hat sich auf der Stadtratssitzung am vergangenen Donnerstag mit knapper Mehrheit auf ein „Sozialticket“ verständigt, das den größten Teil der sozial bedürftigen Bürger der Stadt Augsburg ausschließt. Von zirka 27.000 auf Arbeitslosengeld und Sozialhilfe angewiesenen Bürgern wurden am vergangenen Donnerstag vom Stadtrat nur zirka 7.000 als Leistungsempfänger für ein Sozialticket herausgeschält. Die „Kunden“ der Jobcenter, also auch Alleinerziehende ohne Anstellung, sind von der Stadt aussortiert worden. Es sei die Aufgabe der Stadt Augsburg, den Haushalt so zu gestalten, dass wir uns ein Sozialticket für alle sozial Bedürftige leisten können, so der Grüne OB-Kandidat Reiner Erben, der sich händeringend gegen ein “diskriminierendes Sozialticket” wehrte und dabei von seinem  Oppositionskollegen und OB-Mitbewerber Stefan Kiefer (SPD) befeuert wurde: „Das, was Sie wollen, ist kein Sozialticket. Ein Sozialticket ist das, was die Armutskonferenz der lokalen Agenda fordert.“ Kiefer meinte mit „Sie“ die Fraktionen der CSU, der CSM und von Pro Augsburg, die an diesem Tag die Mehrheit im Stadtrat hatten.

II

Die Opposition bewertet die „Sozialticketkulisse“ richtig. Bei der vom Stadtrat verabschiedeten Kompromiss-Lösung der CSM darf man weder im formalen noch im politischen Sinn von einem Sozialticket sprechen. Es ist formal falsch von einem „Sozialticket“ zu sprechen, wenn 70 Prozent der sozial bedürftigen Menschen ausgeschlossen werden und das neue Ticket somit nur für einen relativ kleinen Personenkreis gilt. Das vom letzten Stadtrat „ausgehandelte“ Ticket ist kein Sozialticket, sondern ein zusätzliches Tarif-Segment im ohnehin kaum durchschaubaren Preis-Dschungel der Stadtwerke.

III

Im politischen Sinn darf man nicht von einem Sozialticket sprechen, weil es sich nicht um ein Angebot handelt, das der Augsburger Stadtrat aus einer sozialethischen Einsicht heraus getroffen hat, sondern um einen in höchster Eile am Sozialausschuss vorbei getroffenen Kompromiss, der, wie die vorausgehende Debatte erkennbar machte, eine Grenze markiert. Es handelt sich dabei um eine eiserne Grenze, die einen tiefen Riss durch die bundesrepublikanische Gesellschaft zieht. Nach jahrzehntelangen kriegerischen Auseinandersetzungen um den “richtigen” Grenzverlauf ist es ab einem bestimmten Punkt nicht mehr möglich, über den Sinn und Zweck einer Grenze nachzudenken. Dabei gilt für die Geisteswissenschaften in dieser Hinsicht das Gleiche wie für die konkrete Erfahrung: Eine umkämpfte Grenze mit Todesstreifen, Tellerminen und Heckenschützen bedeutet Stillstand, steht also einem Fortschreiten der Zivilgesellschaften im Wege. Am deutlichsten beschrieb OB Kurt Gribl den Status dieser Grenze.

IV

Das Sozialticket gelte nämlich nicht für Lidl- und Aldi-Verkäuferinnen, weshalb die „mit einem dicken Hals durch die Stadt gehen, weil andere alles geschenkt bekommen“, so Kurt Gribl wörtlich. Augsburgs Oberbürgermeister wollte damit zum Ausdruck bringen, dass es eine erkennbare Differenz zwischen Arbeitenden und Arbeitssuchenden geben muss. Könnten sich Nichtarbeitende beinahe das Gleiche leisten wie im Niedriglohnbereich Beschäftigte, wäre etwas faul im Staate Dänemark, so die Denkungsart des Augsburger Oberbürgermeisters. Eine Welt-Anschauung, die sich nicht nur am Falschen orientiert, sondern auch das Falsche (in diesem Fall den Niedriglohn) als ein unveränderbares Naturgesetz voraussetzt. Der Grundsatz, dass sich Arbeit lohnen müsse, hat als ethische Prämisse in einer Leistungsgesellschaft, deren Statusorientierung an Arbeit und Eigentum ausgerichtet ist, zu gelten. In seiner Arbeit spiegelt und erkennt sich der Mensch und sie erzeugt in einem Rechtsstaat einen Mehrwert, der sich in geschütztes Eigentum verwandeln lässt. Gegen diese schöne knappe Formel wäre schwer ins Feld zu ziehen, wenn sich der Niedriglohnsektor nicht dergestalt nach unten entwickelt hätte, sodass sich ein nicht unwesentlicher Anteil der Vollzeitbeschäftigten ein normales Leben nicht mehr leisten kann. Die Regelsätze für Sozialhilfe haben sich nicht dergestalt erhöht, sodass sie sich den Vollzeitbeschäftigten im Niedriglohnsektor nähern, es ist umgekehrt: Die Niedriglöhne nähern sich den Regelsätzen. Das gilt inzwischen auch für den ersten Arbeitsmarkt. Auf diese dramatische Entwicklung hat der Gesetzgeber reagiert, indem er die Einführung eines Mindestlohnes für notwendig erachtet.

V

Dass die Kommunen durch den von der Agenda 2010 eingeleiteten Niedergang der Sozialpolitik der Bonner Republik stärker belastet werden, ist nichts Neues. In NRW wurden wegen klammer Kassen der Kommunen die Sozialtickets teurer. Im Osten der Republik wurden Sozialtickets wegen knapper Kassen in verschiedenen Kommunen abgelehnt. In Bayern gäbe es dafür noch Gestaltungsspielräume. Auch in Augsburg, wo aber die Mehrheit im Stadtrat ein klares Bekenntnis zu einem Sozialticket nicht geben will. Kurt Gribl hat es mit seiner Kommentierung möglicherweise ungewollt auf den Punkt gebracht: Die Not der Menschen existiert im Kopf. Neid ist eine geistige Not. Das gilt für alle Schichten, und somit auch für Niedriglohnempfänger und finanziell schlecht gestellten Familien, die keine Gelder aus den Sozialkassen ziehen, und dennoch kaum über die Runden kommen. Doch die zuletzt angeführten leiden nicht daran, dass es bestimmten Personen („den Hartzern“) nicht viel schlechter als ihnen selbst zu gehen scheint. Die möglicherweise zu kleine Differenz im Lebensstandard zwischen sozial benachteiligten Gruppen ist ein Scheinproblem. Die Not der sozial Bedürftigen ist eine andere: Sie leiden gemeinsam an einer grob verfassten Stigmatisierung, die darin besteht, dass ihre Konsumfähigkeit nicht ausreicht, um genügend gesellschaftlichen Respekt und Anerkennung einzufahren. Diese gesamtgesellschaftliche Stigmatisierung wird mit einem Sozialticket, das Not und Armut klassifiziert, sogar verschärft. Damit soll gesagt sein, dass ein Sozialticket keinen Sinn macht, wenn es nicht im ideellen Sinn von der Politik verstanden wird. Ein Sozialticket muss von beiden Teilen einer Stadtgesellschaft angenommen werden, also von jenen, die es in Anspruch nehmen könnten und von jenen, die darauf keinen Anspruch haben. Darauf sollte die Politik in ihrem Wirken Wert legen, statt sich hinter Sozialneid-Attitüden zu verschanzen.

Gegen die Not im Kopf hilft nur eine andere, eine tiefere gesellschaftliche Bewertung von Arbeit und Leben. Die politische Kaste hätte auf lokaler Ebene die Möglichkeit, in dieser Hinsicht etwas Grundlegendes zu unternehmen: „Ein ÖPNV ist kein ÖPNV mehr, wenn er für einen großen Teil unserer Stadtgesellschaft zu teuer ist. Das wollen wir nicht. Das werden wir ändern.“ Dass der Augsburger Stadtrat dazu nicht in der Lage ist, ist ein wahres Armutszeugnis.