Die Mär vom edlen Wilden hat mit Winnetou eine parodistische Entsprechung erhalten
Warum Winnetou nicht sterben darf und es einen Zusammenhang zwischen der Dasinger Western-City und dem Augsburger Bahnpark gibt
Von Siegfried Zagler
Die Mär, dass der Mensch edel, hilfreich und gut gewesen sein soll, bevor er aus den frühen Urgesellschaften und somit auch aus einer absoluten Natur heraus in die Abgründe der modernen Welt stürzte, hat sich als Mythos in den Breiten der westlichen Zivilgesellschaften erstaunlich widerspruchsfrei verfestigt. Hier die verbrecherischen Machenschaften der profitorientierten Despoten, dort die edlen Wilden, die für kapitalistische Kulturtechniken nicht zu haben waren. Dieser sozialromantische Kitsch wurde nicht nur von Karl May, sondern fast zeitgleich von Karl Marx und Friedrich Engels im 19. Jahrhundert wirkungsvoll verbreitet. In der bundesrepublikanischen Gesellschaft hat dieser Mythos in den sechziger Jahren mit der Winnetou-Saga eine parodistische Entsprechung erhalten.
Die Winnetou-Opern (Regie: Harald Reinl) in den Kinosälen der sechziger Jahre stellten im postfaschistischen Deutschland einen kulturellen Wendepunkt dar und sind aus diesem Grund als Kunstwerke deutlich unterschätzt. Nicht nur wegen den kaum versteckten homosexuellen Anspielungen der beiden Blutsbrüder Old Shatterhand und dem Häuptling der Apachen, sondern auch wegen ihrer ureigenen Ästhetik, die zusammen mit der opulenten Musik von Martin Böttcher das Narrativ des siegreich Guten ins Felde führte, sind die Karl-May-Verfilmungen mit Pierre Brice, Lex Barker, Mario Adorf und Ralf Wolter helle Mosaiksteine auf einem Gemälde eines insgesamt düsteren Jahrzehnt, das hierzulande nicht besonders „swinging“ war.
Winnetous letzte Kugel erschoss den berüchtigten deutschen Heimatfilm. Danach folgten Fassbinder, Kluge, Uschi Obermaier, Dutschke und Co. – und somit der Krieg der sogenannten 68-er gegen ihre Elterngeneration. Ein Krieg, der lange dauern sollte und zahlreiche Opfer forderte und von den „Guten“ nur deshalb gewonnen wurde, weil die „Bösen“ das Schlachtfeld aus Altersgründen verlassen mussten. Heute befindet sich die 68er-Generation langsam aber sicher selbst vor der Reise in die ewigen Jagdgründe. Darauf sollte man vorbereitet sein. Die Saga des edlen Wilden, der sich mit einem deutschen Ingenieur verbrüdert, taugt ausgezeichnet zur Verklärung der Geschichte und zur Verarbeitung des Wahns, dass am deutschen Wesen die Welt genesen solle. Dass sich Großeltern und Eltern, die sich jedes Wochenende mit Enkelkindern und Kindern seit Jahrzehnten zu Zehntausenden in Bad Segeberg, Elspe und acht anderen Karl-May-Festspielorten einfinden, gilt als ein Indiz für die These, dass eine extreme Jugend als lebenslange Verarbeitungsaufgabe bleibt – wenn es sein muss mit Popkorn, Pyrotechnik, Pferdegewieher und Kindergeschrei.
Die Darbietungen der deutschen Karl-May-Spielstätten sind in „Sachen Winnetou“ nicht der Rede wert, sind selbst vom Status der Parodie weit entfernt und sind trotz hohem technischen Aufwand ein erzählerisches Desaster, das – Kitsch hin oder her – immerhin zu den großen Familienvergnügen der Sommerwochenenden zählt. Winnetou boomt auf den Freilichtbühnen und hat sich zum deutschen Pendant zu Disneyland entwickelt. Weshalb man sich kaum wundert, dass sich die bayerischen Behörden im Raum Dasing sehr unbürokratisch verhielten, als es darum ging, den Fortbestand der Dasinger Westernstadt zu sichern: Winnetou darf nicht sterben! Das leuchtet selbst dem Amtsschimmel ein.
Gegensätzlich verhalten sich die Behörden offenbar beim Augsburger Bahnpark, der wegen Verfahrensverzögerungen dem Ruin entgegensteuert. Der Augsburger Bahnpark mit seinem historischen Inventar erzählt den Untergang der Naturvölker vom Standpunkt der Sieger. Schließlich sind „Stahlrösser“ Symbole der ersten Industrialisierungswelle, an der die Ureinwohner Nordamerikas zugrunde gingen. Während also die Dasinger Western-City trotz zweier Großbrände munter weiter lebt, scheint sich der ewig kränkelnde Bahnpark seinem Ende zu nähern. Sollte es so kommen, dann könnte man von einer ironischen Wendung der Geschichte sprechen, vom Sieg des Geistes über die Materie – und von einem fehlenden Geschichtsbewusstsein in eigener Sache.