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Dienstag, 23.07.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

Die Farce verschüttet die Tragödie

Premiere: Herbert Achternbuschs „Gust“ im Hoffmannkeller

Von Frank Heindl

Ein unglaublich starker Text ist das, ein schwerer, extrem dichter, gewaltiger Text. Da sitzt jedes Wort, da sitzt jede Auslassung. Diese Sprache lässt nichts durch, keinen anderen Gedanken. Da sitzen die Worte so nah beieinander, dass kein anderes mehr dazwischen passt. Manche fehlen ganz – sie haben keinen Platz mehr gefunden oder sind zerdrückt worden von den anderen Wörtern in dieser massiven Dichte. Für jeden Schauspieler, für jeden Regisseur ist diese literarische Zusammenballung eine Herausforderung. Die Rede ist von Herbert Achternbuschs Stück „Gust“, das am Freitag im Hoffmannkeller des Stadttheaters Premiere hatte. Anton Koelbl spielte den Gust und führte zusammen mit dem Schauspieler Tjark Bernau Regie.

Laut, provozierend, großartig: Anton Koelbl als Gust in Herbert Achternbuschs gleichnamigem Stück (Foto: Nik Schölzel).

Laut, provozierend, großartig: Anton Koelbl als Gust in Herbert Achternbuschs gleichnamigem Stück (Foto: Nik Schölzel).


Der Gust – was ist das für einer? Achternbuschs Text stellt einen niederbayerischen Bauern der „alten Sorte“ vor, einen, der sein Leben lang nichts als Arbeit gekannt hat. Einen, den dieses Leben deformiert hat. Der Gefühle nur sich selbst gegenüber hat, hart gegenüber andern, hart gegen sich selbst, mit eisernem Überlebenswillen ausgestattet. Leben will der. Wie? Wofür? Das erfahren wir nicht. Wahrscheinlich ist, dass der Gust das selbst nicht weiß, sich nie Gedanken darüber gemacht hat, was ein Leben außer Arbeit noch bieten könnte.

Gust ist da, massiv, unüberseh-, unüberhörbar – so genügt er sich selbst. Und deshalb ist es ganz folgerichtig, dass Anton Koelbl ihn mit viel körperlicher Präsenz zeigt – ein Bauer beim Fressen und beim Scheißen, laut lachend, provozierend selbstbewusst das Publikum ins Visier nehmend, ein Polterer, der damit angibt, wie viele Maßen er früher auf dem Feld und im Wirtshaus täglich versoffen hat.

Publikumsgelächter ist gewollt

Doch leider gibt die Inszenierung dem Gust mit diesem durchaus berechtigten Ansatz zu wenig Platz: Denn Koelbl/Bernau schlagen den Weg zur Farce ein. Neben dem monologisierenden Gust stirbt seine Frau Lies. Sie wird von Julian Kluge dargestellt – blass, rot-weiß geschminkt und mit Langhaarperücke ein wenig an Achternbuschs Skandalfilm „Das Gespenst“ erinnernd, in dem Jesus, vom Regisseur selbst dargestellt, vom Kreuz stieg und durch München irrte. Gust ist gefühllos dieser Leidenden, dieser sterbenden Kreatur gegenüber, stopft sich immer mal wieder eine „Pries für die Lies“ in die Nase, erzählt der nun Wertlosen von seiner ersten Frau, die ein Arbeitstier gewesen sein soll wie er selbst. Nebenbei stößt er sie brutal herum, stopft sie ins Bett, als das ein am Boden liegender Schrank dient, klappt mal die Tür über ihr zu, wirft sie mal hinein, mal auf den Bühnenboden herunter, nimmt sie dann aber auch wieder in den Arm, wischt ihr mit Zeitungen den durch die Hose rinnenden Durchfall notdürftig ab – naturalistische Darstellungen, die beim Publikum, wohl gewollt, zu Gelächter führen.

Aber Achternbuschs Text gegenüber ist Gelächter fehl am Platz – „Gust“ ist keine Farce, sondern eine Tragödie. Den massiven Kürzungen auf 60 Minuten Spielzeit ist diese Tatsache zum Opfer gefallen. Achternbuschs Stücke sind und waren nie sozialkritisch im Sinne von Analyse und Kritik – sie sind es aber zutiefst im Sinne eines unausgesprochenen Appells an Verständnis und Empathie beim Zuschauer. Seine Figuren sind nicht so zur Welt gekommen, wie er sie sich selbst darstellen lässt. Sie sind geformt von einer gefühllosen Umwelt, einem mörderischen Arbeitsleben, von harten Mitmenschen. Sie sind Täter und Opfer in einem, Handelnde und Behandelte, und sie sind trotz ihres höchst beschädigten Wesens mit einer großen seelischen Tiefe ausgestattet, die ihnen selbst kaum bewusst ist. Ihre Schilderung zeigt das Tierische im Menschen, vielleicht sogar nur den Funken Menschlichkeit in zu Tieren Heruntergekommenen.

Zu wenig Vertrauen ins Stück

Anton Koelbl gelingt es immer wieder, dieses Verhältnis hinter den Verhältnissen aufscheinen zu lassen – etwa, wenn Gust von den Qualen berichtet, die er während eines Wundstarrkrampfes erlitten hat und die seinen Gottesglauben wie seinen Überlebenswillen noch verstärkt haben. Doch zu schnell verschüttet die Inszenierung diese Momente unter unnötigen Aktionen, die Imagination und Empathie beim Publikum eher hemmen als entfachen. Zu wenig Vertrauen in Stück und Publikum nimmt – trotz enormer schauspielerischer Leistung Anton Koelbls – Achternbuschs großartigem Stück ein Gutteil seiner Mächtigkeit. Noch mutiger wäre es gewesen, mehr dem Text zu vertrauen.