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Freitag, 11.04.2025 - Jahrgang 17 - www.daz-augsburg.de

Die Entdeckung der Gleichgültigkeit

Das Stadttheater Augsburg startet mit einer Groteske in die neue Theatersaison – und begeistert

Das große Wundenlecken:„Das große Wundenlecken“, eine Uraufführung: Marlene Hoffmann, Sebastián Arranz, Jessica Higgins und Anton Koelb (v.l.) Foto: Kai Wido Meyer

Mit „Das große Wundenlecken“ begann gestern die Augsburger Theatersaison in der nicht ganz ausverkauften Brechtbühne. Ein Start, der sich sehen lassen kann. Die Groteske über die Gleichgültigkeit (Text: Gerasimo Bekas/Regie: Sapir Heller) überzeugte jedenfalls das Premierenpublikum, das mit langem Applaus die Mitwirkenden in die Premierenfeier verabschiedete.

Von Siegfried Zagler

Worum es geht? Das ist die falsche Frage, da es um alles und nichts geht und die Handlung nicht evident ist. Aber man kann versuchen, aus vielen Puzzle-Stücken der kurzen Anstöße ein Handlungsbild herauszuschälen: „Marmoryoga“ ist eine Meditationstechnik, die es ermöglichen soll, sich in die Vergangenheit zu begeben, indem man sich in historische Marmorfiguren hinein metamorphiert und ihren Geist zum Sprechen bringt. („Gib mir den Herakles!“). „Wir tauchen in die Vergangenheit ein und tauchen in einer besseren Welt wieder auf“, so der Marmoryoga-Experte Yoga-Yannis – halb zugewandt seinen drei Bühnen-Jüngern und halb zugewandt dem Publikum, das er somit mitzunehmen erhofft – in ein absurdes Labyrinth der Lächerlichkeit.

Hätte Stückeschreiber Gerasimos Bekas darauf verzichtet, die ohnehin vor Ironie triefenden Marmoryoga-Szenen durch Marketingsprüche von TV-Dauerwerbesendungen als überladene Spaßpackung für einfache Lacher zu zeichnen, hätte man sogar von einem richtig guten Theaterabend sprechen können. Allein die Textschwäche von Sebastián Arranz, der den „falschen Griechen“ gibt, wäre kaum ins Gewicht gefallen. Sebastián Arranz überzeugt trotz einem Zuviel an vernuschelten Premieren-Hängern mit der Darstellung des falschen Migrations-Griechen, der schlitzohrig als „Marmoryoga-Guru“ mit naiven deutschen „Aufarbeitungsweltmeistern“ sein Geld verdient. Will man die Jugend ins Theater locken, lässt sich die insgesamt überzeugende schauspielerische Leistung des Sebastián Arranz als Yoga-Yiannis leicht erklären: Wie Johnny Deep in „Fluch der Karibik“ Kapitän Jack Sparrow spielt, so spielt Arranz den falschen Griechen, also mit leicht überzogener Entrücktheit. Er ist stets neben der Spur unterwegs und befindet sich somit auf den Spuren des Brecht´schen Verfremdungseffektes, der das Publikum dazu anhalten soll, ohne Identifikationsprozesse mit dem Mut des eigenen Verstandes das Epische des Stückes zu sehen.

Hitler, Beckenbauer, Brecht u.v.m. und selbstverständlich auch das ultimativ Böse des Kalten Krieges, „der Iwan“, der nie kam, tauchen irgendwie auf und verschwinden wieder im Nichts des Vergangenen. Das dunkle Kapitel der deutschen Besetzung Griechenlands. „Egal, egaal, egaaaal“, intoniert der Marmoryoga-Guru.

Gerasimos Bekas Sprechstück, eine Auftragsarbeit des Theaters Augsburg, erreicht das Publikum, indem es ihm den kleinbürgerlichen Fetisch der eingebildeten Bildung vor Augen führt: Durch die vorgegeben Tiefen des Wissens, das eben kein Wissen, sondern Nichtwissen ist, also etwas, das im Dunstkreis der Esoterik zur Sprache kommt, führen die Protagonisten dem Publikum das Nichtverstehen der Gegenwart vor Augen. Dem aufmerksamen Publikum sollte dabei das Lachen vergehen.

Es ist nicht nur das Problem der Generation des Autors, der gerade mal knapp über 30 Lenze zählt, nicht zu wissen, was man will, aber dafür um so genauer zu wissen, was man nicht will. Nicht zu wissen, was man aus dem „Geschenk Leben“ machen will, führt zur Philosophie oder zur Esoterik, führt zur Langweile oder zur Kunst – in die Verweigerung oder zum Veganismus und schlimmstenfalls in die Depression, die mittels Selbsttötung das nicht bestellte Geschenk zurückweist. Nichtwissen beziehungsweise Nichtverstehen ist frei nach Ludwig Wittgenstein der erste Schritt in die Philosophie, die möglicherweise zur Erkenntnis führt, während das sichere Wissen darüber, was man will und wohin die Reise gehen soll, in den meisten Fällen zur Katastrophe einer verfestigten Identität führt.

Jessica Higgins als Henrike, Marlene Hoffmann als Artemis („Warum vergewaltigt mich niemand?“), Sebastián Arranz als Yoga-Yiannis und Anton Koelb als Walter zeigen sich der Schwierigkeit der Aufgabe mehr als gewachsen. Selten gleitet die Groteske in die Untiefen des Albernen ab, und wenn doch, was sich bei diesem Genre schwer vermeiden lässt, wird das durch die Kunst der Darsteller ausbalanciert. So changiert das Stück vom breiten Strom der Geschwätzigkeit hin zu den Spitzen sarkastisch gefärbter Postulate, die vorgeben, das Unerträgliche ins Erträgliche zu verschieben: „Wenn Gleichheit nicht bestehen kann, dann ist Gleichgültigkeit die Lösung.“ – Ein Besuch lohnt sich.

Bühnenbild: Ursula Gaisböck. Videoeinspieler: Andreas Füg und Robert Zorn.

Weitere Termine: 2.10. – 7.10. – 12.10. – 14.10. – 22.10. – 26.10. – 6.11. – 11.11. – 17.11. – 3.12.- 5.1.17 – 17.1.17 – 8.2.17