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Freitag, 22.03.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

Die andere Heimat

Regisseur Edgar Reitz zu Gast im Thalia

Von Dr. Andreas Garitz

Edgar Reitz präsentierte vergangenen Sonntag im Thalia persönlich den mittlerweile vierten Teil seiner Filmchronik „Heimat“. Das vierstündige Werk „Die andere Heimat“ ist in seiner Bildgewalt erschlagend und im Erzählstil epochal, es zwingt zum Lachen, sich Mitfreuen und zum Weinen, ist über die ganze Dauer fesselnd und nicht nur eine Reise in die Mitte unserer Vergangenheit. Es ist auch ein Plädoyer für einen anderen Umgang mit Herkunft und Migration im Hier und Jetzt.



Eines sei vorausgeschickt: Das Filmepos „Heimat“ hat mich bereits in den 80er Jahren tief bewegt: Die Art des Zugangs zu den Menschen, zu ihren Geschichten, ihrem Erinnern und Vergessen, die Frage danach, was Heimat ist, die Beschreibung der Weite und Enge heimatlicher Welten inklusive der Sehnsüchte, aus ihnen auszubrechen. Das alles hat mich damals tief beeindruckt und geprägt. Am Ende hat es sogar dazu beitragen, dass ich ein paar Jahre später Volkskunde studierte. Tatsächlich hat das Werk des mittlerweile 81jährigen Edgar Reitz vieles mit Volkskunde gemeinsam: Es geht nicht um das große Ganze mit all seinen Fakten und Zahlen, sondern um das Kleine und Persönliche, also um die Geschichten kleiner Leute, in denen sich die große Welt widerspiegelt. In diesem Fall die Welt in der Mitte des 19.Jahrhunderts. Die andere Heimat ist der zum Schluss gedrehte erste Teil der Tetralogie, beginnend im Hungerwinter 1842 im altvertrauten, fiktiven Hunsrückdorf Schabbach. Hier wie im gesamten Hunsrück setzt sich in dieser Zeit eine große Migrationsbewegung in Richtung Südamerika in Gang. Die Menschen sind Hunger und Kälte leid, hinzu kommt der Groll gegen die Herrschenden am Vorabend der 48er Revolution. Wieder begleiten wir ein Stück weit die Lebensgeschichte der Familie Simon, die exemplarisch für viele andere steht.

Rekonstruierte Lebenswelten

Die Schauspieler bewegen sich inmitten einer akribisch genau recherchierten, mit großer historischer Kenntnis rekonstruierten Lebenswelt. Jedes Detail, das aufblitzt, ist korrekt und zugleich liebevoll wiedergegeben. Auf den ersten Blick sieht es in Schabbach ein bisschen aus wie in einem hauskundlichen Freilichtmuseum. Worauf bei der Fragestunde nach Ende des Films auch glatt eine der Fragen aus dem Publikum abzielt: Wäre es nicht billiger gewesen, gleich in Glentleiten oder Bad Sobernheim zu drehen? Natürlich nicht, sagt Reitz. Einmal abgesehen davon, dass man einen laufenden Museumsbetrieb nicht für so lange Zeit hätte in Beschlag nehmen können, wäre das nicht annähernd den gestellten Ansprüchen gerecht geworden. Hier wird Sachkultur nicht ausgestellt, sondern sie wird lebendig inszeniert und real bewegt, sie wird benutzt und verwendet. Alles am Gezeigten ist so echt wie es geht: die Kleidung der Schauspieler vor Ort am eigenen Webstuhl gewebt, die Feldpflanzen am Set angebaut und geerntet, die Tiere und Menschen in echte Ställe und Häuser gesteckt, in die sie zwecks Authentizität lange vor Drehbeginn einzogen waren. All das musste mühsam, dem Drehbuch entsprechend beschafft und zusammengebaut werden, denn im Gegensatz zu den Reichen ihrer Zeit haben die Armen keine fertigen Burgen und Schlösser samt Inventar hinterlassen, auf das man hätte zurückgreifen können. Sieben Millionen hat das Projekt gekostet und Edgar Reitz antwortet auf die etwas seltsame Anmerkung „Gut, wenn sich das leisten können“ aus dem Publikum, dass eben monetäre Dinge nicht so wichtig sind. Entscheidend ist der künstlerische Anspruch, dem man gerecht werden muss, um Bleibendes zu schaffen.

Ein Universum aus kleinen Geschichten

„Vier Stunden lang, Schwarz-Weiß und in Dialekt gedreht? Können sie vergessen“

„Vier Stunden lang, Schwarz-Weiß und in Dialekt gedreht? Können sie vergessen“


Was für die im Film sichtbare „Sachkultur“ gilt, gilt ebenso für die erzählten Geschichten, die mannigfaltig in das vierstündige Werk eingeflochten sind. Eine schlimme Zeit war das 19. Jahrhundert für viele und die Figur des Fürchtegott, der nicht mehr sprechen mag und sich schließlich erhängt, steht exemplarisch für „Menschen, die angesichts ihrer verzweifelten Lage in tiefe Melancholie verfallen sind“, erzählt Reitz. Oder Marie Goot, das personelle Bindeglied zum Teil eins der Tetralogie (in dem sie dann weit über 80 ist). Sie ist ein ganz typisches Beispiel, wie Reitz Geschichten erzählt und in sein Universum einbindet: quasi nebenbei. Das behinderte Mädchen, das von allen, auch von den eigentlich eher liebenswerten Protagonisten ständig nur zur Seite geschoben wird und keinerlei Beachtung erfährt. Oder der Onkel, der am Webstuhl stirbt und sogleich routiniert und ganz pragmatisch an Ort und Stelle entsorgt wird. So etwas zeigt, wie man früher mit den Dingen des Lebens umging.

Heimat wird greifbar als Summe von erlebten und erfahrenen Einzelgeschichten. Die sind teilweise aus Archiven entnommen und stammen aus preußischen Arztberichten oder privaten Tagebüchern in der Staatsbibliothek. Aber das Drehbuch trägt auch autobiografische Züge: Ursprünglich hatte Edgar Reitz einen Dokumentarfilm über Brasilien-Auswanderer aus dem Hunsrück geplant. Doch bei seinen Recherchen in Südamerika stieß er auf Dinge, die ihn dann doch zu einem neuen Teil der Hunsrück-Chronik animierten: Vor allem die Geschichte von den zwei Brüdern aus seinem eigenen Stammbaum, von denen um 1850 einer hier blieb und der andere nach Brasilien ging. Und die war dann schnell mit der Geschichte des eigenen, 2008 verstorbenen Bruders verbunden: Nach dessen Tod hatte sich überraschenderweise herausgestellt, dass der praktizierende Uhrmacher schon seit vielen Jahren nebenher als international anerkannter Sprachgelehrter für indigene Sprachen unterwegs gewesen war. Im Film wird daraus die Figur des Jakob Simon, der sich so gut (mit freilich für den Film neu erfundenen) Indio-Sprachen auskennt, dass am Ende sogar Alexander von Humboldt auf ihn aufmerksam wird. Und dennoch ist es nicht er, sondern sein Bruder, der Schmied, der in die Neue Welt aufbricht. Viele Verstrickungen haben die Viten der Männer durcheinandergewirbelt.

Wozu in der Vergangenheit schweifen?

Edgar Reitz

Edgar Reitz mit der gedruckten „Heimat“


„Vier Stunden lang, Schwarz-Weiß und in Dialekt gedreht? Können sie vergessen“. Das hatte Edgar Reitz von diversen Produzenten gehört. Doch sowohl in Deutschland als auch in Frankreich haben jeweils 120.000 Zuschauer den Weg in die Kinos gefunden. Warum solche Geschichten aus der alten Welt auch noch heute so brisant und interessant für uns sein können, ist nicht so leicht zu beantworten. Aber Edgar Reitz sagt gleich zu Anfang der Fragestunde im Thalia, dass es natürlich nicht der perfekt ausstaffierte Gang zurück in die Vergangenheit ist, um den es ihm gehe. Nein, es gehe um Dinge, welche die Menschen gerade jetzt in ihrem eigenen Leben beschäftigen und die sie in altem Gewand wiederentdecken: „Man versucht, sich in der Geschichte selbst zu finden“.

Man findet sich schnell, man leidet, lacht mit, muss weinen und wird nachdenklich, all dem kann man bei der Macht der Bilder nicht widerstehen. Man begegnet Themen, die uns heute genau so bewegen, wie früher. Reitz sagt, Migrationsbewegungen gab und gibt es in aller Welt, auch bei uns: vor 100 Jahren waren wir die Wirtschaftsflüchtlinge, die Leute, die heute vor der Insel Lampedusa untergehen. Heimat also ganz jenseits von Verklärung und falscher Romantisierung. Ohne den trügerischen rückwärtsgewandten Blick auf etwas, das zurückgeholt werden muss. Von so einer Definition von Heimat und Geschichte kann sich sicherlich nicht nur das neu gegründete bayerische Heimatministerium mehrere Scheiben abschneiden.