Staatstheater
Deutschsprachige Erstaufführung am Staatstheater Augsburg: Jerusalem
Drastische Orgien in britischer Sagenwelt zeichnen einen bemerkenswerten Theaterabend im Martinipark
Von Halrun Reinholz
Auf der Bühne steht ein Wohnmobil, das nicht mehr fährt, in einem Wald. Ein junges Mädchen mit Feen-Flügeln intoniert leise das Lied, nach dem das Stück benannt ist: „Jerusalem“. Eine der „inoffiziellen“ Hymnen Großbritanniens. Neben „Rule Britannia“ und „Land of Hope and Glory“ hat das Lied einen festen Platz in der „Last night of the proms“, der britischen Selbstdarstellung zum Sommerende in der Royal Albert Hall. In „Jerusalem“ wird Großbritannien nebst anderen geheimnisvollen Andeutungen zu einem auserwählten Land stilisiert, wo einst das Gotteslamm höchstselbst weidete.
Es ist tatsächlich ein sehr britisches Stück, das Jez Butterworth 2009 unter dem Eindruck der Finanzkrise geschrieben hat. Ein Stück, das den Nerv der Zeit traf – und das sowohl in Großbritannien als auch später am Broadway ein Bühnenerfolg wurde. Am Augsburger Staatstheater feierte nun die deutschsprachige Erstaufführung Premiere. Darauf ist das Theater zu Recht stolz, denn eine Übersetzung des Stücks samt Aufführung in einem anderen Land war noch nicht vorgesehen, weil der Stoff erst verfilmt werden sollte. Dem Dramaturgen Lutz Keßler und seiner Hartnäckigkeit war der Coup zu verdanken. Michael Raab wurde mit der schwierigen Aufgabe der Übersetzung des umfangreichen und drastischen Textes beauftragt, der viel Umgangs- aber auch Fäkalsprache enthält und in jeder Hinsicht politisch unkorrekt ist. Dass hier dennoch nicht angstvoll „geglättet“ wurde, spricht für das Theater. Im Programmheft steht lediglich der Hinweis, dass „zugunsten des Originalcharakters des Stückes und der Charakterisierung der Figuren“ auf Eingriffe verzichtet wurde, auch wenn so manche Bezeichnungen „kritisch zu betrachten sind.“
Der Held (oder auch Antiheld, je nach Sichtweise) des Stückes Johnny „Rooster“ Byron (unglaublich intensiv gespielt von Sebastian Müller-Stahl) haust seit vielen Jahren in dem Wohnwagen im Wald in der Nähe der Kleinstadt Flintock, wo er wohl auch herkommt. Er war, so erfährt man, einst ein erfolgreicher Motorrad-Stuntman, der seine waghalsigen Kunststücke auf Jahrmärkten vorführte, dabei aber einen Unfall erlitt. Sein Wohnwagen ist die Anlaufstelle der frustrierten Bewohner von Flintock, die hier unter dem Einfluss von Drogen, die Johnny großzügig verteilt, ihre Träume und Sehnsüchte ausleben. Besonders junge Mädchen wie Phaedra (Christine Jung), Pea (Nélida Martinez) und Tanya (Sarah Maria Grünig) hängen gern bei Johnny ab. Aber auch seine Freunde Ginger (Paul Langemann), Davey (Alexander Küsters) und Lee (Florian Gerteis). Ein Professor (herrlich komisch: Klaus Müller) irrt gelegentlich durch den Wald und gibt akademische Weisheiten von sich, doch auch er ist ein Gestrauchelter ohne Perspektive.
Sie alle lassen sich gern von Roosters Münchhausen-Geschichten einlullen. „In diesem Wald hab ich eine Menge seltsamer Dinge gesehen“, resümiert Rooster und gibt eine Anekdote nach der anderen zum Besten. Plötzlich steht Dawn, seine Ex-Frau (Natalie Hünig) mit Sohn Marky (Felix Aaron Bücker bzw. Mathis Leibold) da. Ein weiteres gescheitertes Lebenskapitel des Protagonisten. Und nun hängt zu allem Überfluss eine Räumungsklage an der Tür des Wohnwagens, denn die neue Siedlung, deren Bewohner das inoffizielle Camp als Belästigung empfinden, soll noch ausgeweitet werden.
Die Handlung spielt am St.-Georgs-Tag, da wird der Schutzpatron Englands gefeiert. In Flintock gibt es an dem Tag ein Volksfest, die „Fare“. Tradition wird in England ernst genommen und nicht in Frage gestellt. Auch Roosters Geschichten, die er in seinem permanenten Alkohol- und Drogenrausch von sich gibt, haben ihre Wurzeln in der britischen Sagenwelt zwischen Shakespeares Sommernachtstraum, den blutrünstigen Herrschergestalten und King Arthur. Einem Riesen sei er begegnet, erzählt Rooster, der habe ihm so nebenbei erzählt, dass er gelegentlich Stonehenge hingestellt hat. Ginger, der arbeitslose Verputzer, der gern DJ wäre, ist der Skeptiker unter den Jüngern Roosters, er hinterfragt, will aber trotzdem gern an die Wunder glauben, die einem im Leben begegnen.
Davey, der Metzger, träumt sich weg von seinem blutigen Job, fürchtet jedoch alles, was außerhalb von Flintock liegt – das Meer! Und dann Frankreich! Lee hat sich dagegen ein One-Way-Ticket nach Australien gekauft und hofft, dort ein neues Leben zu finden. Wesley, der opportunistische Kneipenwirt (Kai Windhövel) hat Rooster zwar wiederholt Hausverbort erteilt, dennoch bettelt er bei ihm um Drogen, denn er hat sich aus PR-Gründen zur Vorführung eines traditionellen Tanzes bereit erklärt, dieses „Theater“ könne er nur im Rausch überstehen.
Ein echter Widersacher Roosters ist Troy Whitworth, der Stiefvater von Phaedra. Diese ist dafür bekannt, dass sie immer wieder abhaut, weil sie wohl vom Stiefvater sexuell missbraucht wird. Da sie wieder weg ist, vermutet Troy sie bei Rooster. „Ich mach dich kalt“, droht er ihm und bringt die Handlung in Fahrt.
Ein starkes Stück, das geeignet ist, Bedenkenträger aller Art auf den Plan zu rufen: Die Personen handeln hochgradig sexistisch und rassistisch, benutzen eine unterirdische Fäkalsprache, Gewalt und Drogen sind omnipräsent. Wie kann ein solches Stück dermaßen erfolgreich sein? Vielleicht gerade deswegen?!
Es trifft immer noch und vielleicht mehr denn je den Nerv der Zeit. Die Finanzkrise, die Jez Butterworth im Jahr 2009 veranlasst hat, das Stück zu schreiben, ist längst viel schlimmeren Krisen gewichen, die für alle Teile der Bevölkerung eine weitaus höhere Herausforderung darstellen. Deshalb wirkt das Stück so authentisch, ist gleichsam ein Spiegel der Verzweiflung und Ratlosigkeit, die junge Leute heute umtreibt. Zumal jene, die sich manierierte politische Korrektheit nicht leisten können oder wollen. Die Inszenierung André Bückers zelebriert diese „Ihr könnt mich mal“- Haltung drastisch und ungeschönt über fast vier Stunden Spielzeit. Sie orientiert sich wohl weitgehend an der Originalinszenierung in London. Eine Straffung hätte dennoch gut getan, denn trotz aller Faszination und schauspielerischer Höchstleistungen weist die Spannung doch einige Durchhänger auf. Dennoch, zumindest für „Hartgesottene“, ein bemerkenswerter und sehenswerter Theaterabend im Martinipark.