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Dienstag, 23.07.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

Der Mauerfall – bedeutungslos

„Kein Schiff wird kommen“ in Dierigs Fabrikhalle

Von Frank Heindl

Sohn besucht Vater, Vater nervt, kann nichts recht machen, Sohn reist wieder ab. Man könnte die Handlung im ersten Teil von Niels-Momme Stockmanns Stück „Kein Schiff wird kommen“ in ein paar Halbsätzen wiedergeben. Doch dann wäre man in eine der Fallen getappt, die das Stück dem Zuschauer stellt. Man hätte die Doppelbödigkeit des Textes übersehen und die Doppelbödigkeit der Handlung, man wäre auf die einfache Sprache hereingefallen, ohne das raffinierte Spiel zu durchschauen, dass Stockmann mit dem Publikum treibt: Lange lässt er kaum ahnen, was da unter der Oberfläche brodelt.

Die erste Ebene von „Kein Schiff wird kommen“ ist die des Vater-Sohn-Konfliktes. Die beiden nerven sich, und im ersten Teil hat Stockmann die gegenseitige Bereitschaft, auf jede noch so unwichtige Bemerkung mit höchster Verärgerung zu reagieren, wunderbar überspitzt karikiert. Noch darf man lachen.

Doch der Sohn ist nicht nur Sohn, sondern auch Schriftsteller, besucht seinen Vater auf der heimatlichen Insel Föhr als recherchierender Stückeschreiber. Auch wenn Stockmann, der Autor, nicht selbst auf Föhr geboren wäre und sein Stück keinerlei autobiographischen Bezug hätte, wäre doch deutlich, dass hier die zweite Ebene des Stücks zu finden ist: Ein Bühnenautor erzählt aus dem Nähkästchen, berichtet schonungslos aus der Werkstatt des Schreibens.

Im Vordergrund sinnlose Streitereien – im Hintergrund die tote Mutter. Christine Diensberg, Ulrich Rechenbach und Martin Herrmann in Niels-Momme Stockmanns „Kein Schiff wird kommen“

Im Vordergrund sinnlose Streitereien – im Hintergrund die tote Mutter. Christine Diensberg, Ulrich Rechenbach und Martin Herrmann in Niels-Momme Stockmanns „Kein Schiff wird kommen“


Der Sohn will über den Fall der Mauer schreiben. Das birgt Probleme: Er weiß nichts über das Thema (daher die Fahrt zum Vater), es interessiert ihn nicht die Bohne und hat seiner Ansicht nach auch für sonst niemanden Bedeutung, aber Verleger und Intendanten wollen ausschließlich zu diesem Thema ein Stück von ihm. Aber da ist noch ein weiteres Thema, das beide, Vater wie Sohn, meiden: die Mutter. Sie ist tot, wird nur flüchtig erwähnt – und ist doch permanent anwesend. An dieser Stelle wagt die Inszenierung von Regisseur Ramin Anaraki einen – folgerichtigen – interpretatorischen Eingriff in Stockmanns für dramaturgische Kniffe weit offenen Text: Auf der kleinen Bühne in Dierigs Fabrikhalle geistert die tote Ehefrau und Mutter (Christine Diensberg) mal blass und mit leerem Blick, mal in freudiger Anteilnahme, schon von Anfang an zwischen Vater und Sohn herum, mischt sich in deren Gespräche und Gedanken ein.

Wie auf der Therapeutencouch

Zum Thema wird sie erst später werden. Zunächst muss der Sohn frustriert und zornig abreisen, muss Anflüge von Paranoia erleben, sich schlaflos, gehetzt und mit wirrem Blick fühlen „wie ein Schwein in einer Arena von Augen“ – beobachtet und handlungsunfähig. Und muss schließlich, wie auf der Couch des Therapeuten, wieder ganz zum Sohn, zum Kind werden, muss „„Papa, ich brauch deine Hilfe“ rufen und noch einmal nach Föhr und in die eigene Vergangenheit fahren.

Ulrich Rechenbach hatte schon in der ersten Hälfte fasziniert – durch seine Verwandlung in einen unreifen, quengelnden und dauergenervten Jungschriftsteller, der in Gegenwart des Vaters mit schweren Komplexen zu kämpfen hat. Nervös reibt er seine Hände an den Oberschenkeln, um sie dann wieder tief in den Hosentaschen zu verstecken, trippelt von einem Fuß auf den anderen, putzt die Brille, fummelt am Verschluss der Bierflasche, blickt ruhelos umher und sieht doch nie den Vater (Martin Herrmann) an. Nun, im zweiten Teil, muss er ganz Kind werden, muss verstört und mit wachsendem Furor ein Trauma nacherleben, sich mit dem Wahnsinn und fürchterlichen Sterben seiner Mutter konfrontieren. Mit betörender Präzision und permanenten Präsenz gelingt es ihm – fast auf Tuchfühlung mit dem Publikum – in den gehetzten, verletzten, gequälten Blicken des Kindes jenen zappeligen, unreifen Erwachsenen zu spiegeln, der er noch wenige Szenen vorher war – ein überwältigender Einstand für den 28jährigen Neuling im Ensemble des Stadttheaters.

Der Sohn und Schriftsteller auf Tatjana Kautschs Bühne: Im abgeschlossenen und doch leicht zu öffnenden Kubus wohnt die verdrängte Vergangenheit

Der Sohn und Schriftsteller auf Tatjana Kautschs Bühne: Im abgeschlossenen und doch leicht zu öffnenden Kubus wohnt die verdrängte Vergangenheit


Dass der Sohn-Schriftsteller gegen Schluss des Stücks eine Erfahrung macht, die für ihn selbst Relevanz hat, aber – in seinen Augen – für niemanden sonst, ist eine der Fallen, die Stockmann seinem Publikum gestellt hat. Sein Stück plädiert für das Gegenteil, seine Antwort auf die Frage nach der Relevanz ist eine, die der von ihm erschaffene Schriftsteller ahnt, aber nicht geben kann und will: Dass das persönlich Erlebte bedeutsamer sein kann als das historisch Gewordene. Dem Sohn diente die Erkundung der Vergangenheit dazu, den Tod der Mutter zu verdrängen, in der Wiederkehr des Verdrängten aber zeigt sich, dass das historisch „Wichtige“ daneben völlig bedeutungslos wird, dass eine entscheidende Wende im eigenen Leben wichtiger ist als der Fall einer noch so dicken Mauer, von dem man nur aus dem Fernsehen weiß.

Das ist ein höchst individualistischer Kommentar zu den Feiern um 20 Jahre Einheit, über den man trefflich streiten könnte. Aber so ist, hintenrum, der Fall der Mauer doch auch eines der Themen von „Kein Schiff wird kommen.“