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Sonntag, 21.12.2025 - Jahrgang 17 - www.daz-augsburg.de

DAZ-Buchtipps für die Zeit zwischen den Jahren

Vier Bücher hat Gastautor Dietmar Sigl für die DAZ gelesen: Bücher, die kein Genre eint, sondern ein Anspruch. Sie widersetzen sich der bequemen Lektüre, fordern das Denken heraus – historisch, kulturell, literarisch. Den Rezensenten faszinieren die Bücher dort, wo das zum System wird: Verwaltung als Macht­archi­tektur, Schach als Modell des Intellekts, Literatur als Seismo­graph gesell­schaft­licher Ver­werfungen, Rausch als kulturelle Praxis zwischen Erkenntnis und Exzess.

Gastbeitrag von Dietmar Sigl

Buch No.1

Von der Friedbergerin Nicole Finkl haben wir „Admini­strative Verdichtung und Konfessio­nali­sierung: Die Verwaltung der Reichsstadt Augsburg im 16. Jahr­hundert“ . Boah! Geiles Buch. Gestaltung und Druck definitiv high-end. In Augsburger Farben, mit bildlichen Dar­stellungen der original Zirbelnuss sowie zweier berühmter zeit­ge­nössischer Szenen­bilder der bunten Renaissance – „Perlachplatz im Winter“ und „Geschlechtertanz“.

Im Klappentext heißt es: Die Reichs­stadt Augsburg hatte den Höhepunkt ihrer Glanz- und Blütezeit im 16. Jahr­hundert. Erstmals wurde nun der Versuch unter­nommen, der bisher unbe­achteten Frage nach den Verände­rungen der städtischen Verwaltung im 16. Jahr­hundert nachzugehen und die Entwicklung Augsburgs hin­sichtlich einer admini­strativen Verdichtung und Konfessio­nali­sierung genauer zu untersuchen. Die Beschrei­bung der einzelnen städtischen Ämter und Dienste, der handelnden Amtsträger und der inner­städtischen Problem­felder liefert dabei ein farbiges Bild der reichs­städtischen Politik und Admini­stration.“

Die Dissertation der renommierten Autorin aus unserer alt­bayerischen Nachbar­stadt ist ein prosopo­graphisches Feuerwerk von enormer historisch-lite­rarischer Power. Ein Must-have nicht nur für ein Augsburger Bildungs­bürgertum.

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Administrative Verdichtung und Konfessio­nali­sierung: Die Verwaltung der Reichs­stadt Augsburg im 16. Jahrhundert

Von Nicole Finkl

34,90 Euro

  • Bibliografisches: Fadengehefteter Fest­einband, 534 Seiten, Format 24,5 x 17,5 cm
  • Erscheinungsjahr: 2011
  • ISBN: 978-3877078259
  • Link: Verlagsdruckerei Schmidt

Buch No.2

Jens Wietschorke, Jahrgang 1978, lehrt am Institut für empiri­sche Kultur­wissen­schaft und Euro­päische Ethnologie der Universität München. Der Autor hat nach Wien nun in Augsburg sein privates und schach­liches Habitat gefunden, wo die Muse Caissa ihn zu „Schach. 100 Seiten“ zu inspirieren vermochte.

Wietschorke beschreibt aus der Ambivalenz des wissen­schaft­lichen Profis und Schach­amateurs die Magie des Spiels der Spiele als das finale Momentum des menschlichen Intellekts. Expertise und Emotionen – den Autor treiben die 32 Figuren auf 8 x 8 Feldern in Platons Feuer­schein in monadischer Nacht. In präzisem Duktus lässt der Erzähler seinen Leserinnen und Lesern das der ungeheuren Logik des Schachs immanente Sucht­potenzial erahnen. Wietschorkes Bearbeitung des Themas atmet den Geist bürger­licher Aufklärung und ist doch in ihrer uni­versellen Aktualität das Manifest eines aka­demischen Afincionados.

Das im Buch evozierte Faszinosum der KI ist tief im Schach orientiert. Alan Turing baute den ersten program­mier­baren Computer der Welt und program­mierte das erste Schach­programm, die Turing-Engine! Und Turing aß den vergifteten Apfel…

Wietschorke liefert Fakten, Diagramme (Psycho­gramme der Schachwelt), Assozia­tionen und vor allem einen guten Text – „Die goldene Gans, die niemals schnattert“. Das multi­mediale Inter­agieren von Systemen und Individuen, die Rezi­prozität von Taktik und Trash Talk hat das Schachspiel der Postmoderne mega gehyped. Jens Wietschorke erzählt von Turnieren in pracht­vollen Gemäuern und im Netz. Die Community umfasst sämtliche Alters­klassen mit einer stetig wachsenden Zahl junger Menschen, die das prinzi­piell abstrakte Geschehen auf dem Brett oder vor dem Display mit dem Spirit der Zeit­losigkeit anreichern. Schach sei brutal, so Wietschorke, die rea­listische Einord­nung persön­licher Nieder­lagen und Siege daher sine qua non.

Schachprosa vom Feinsten – ein wunderbar prägnantes Werk von informa­tivem Gehalt und mit durchaus persönlicher Note – Schach auf hundert Seiten.

Von Jens Wietschorke erschien zuletzt bei reclam „1920er Jahre. 100 Seiten“ und das Wissen­schafts­buch des Jahres 2024 „Wien – Berlin. Wo die Moderne erfunden wurde“ .

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Schach. 100 Seiten

Alles Wissenswerte über das Spiel der Spiele

Von Jens Wietschorke

12,00 Euro

  • Taschenbuch
  • Erscheinungsdatum: 19.11.2025
  • ISBN: 978-3150207895
  • Link: Verlag reclam

Buch No.3

Zielke heisst einer der oszillierenden, unfrei in dem lite­rarischen Kosmos des passio­nierten Pfeifen­rauchers Siegfried Lenz flottie­renden Charaktere, und in ihm korres­pondiert die Nega­tivität der Aufklärung in lautlosem Widerhall des implo­dierenden Lachsacks von Auschwitz mit schönen Grüßen an das Hier und Jetzt.

Klappentext: „Dringende Durchsage“ versammelt 23 bisher ungedruckte und elf nur einmal publizierte Erzählungen, die einen Einblick geben in die Anfangs­phase von Siegfried Lenz` Schreiben zwischen 1948 und 1957. (…) Ergänzt wird der Band durch spätere Erzählungen (…).

Was bei einem anderen großen, deutsch­sprachigen Literaten des 20. Jahr­hunderts, Franz Kafka, üble Visionen und Alpträume irr­sinniger Komik – Golem und Angelus, Egge und Hackmesser, Labyrinth und Abgrund – zu Welt­literatur gerinnen lässt, packt Lenz rauschhaft nüchtern auf jenen Trümmer­haufen der Vernunft des Überlebens willen.

Lenz verortet die realen Bedingungen der mensch­lichen Existenz im Sublimen des Systems; dessen semantisch so analytisch brilliant exponierte surreale Latenzen den Leserinnen und Lesern in ihrem bundes­republi­kanischen Alltags­leben die Steck­rüben­suppe selbst schmackhaft machen. Lenz presst Humor aus gesell­schaft­lichem Tran, exploriert Radi­kalität, inter­pretiert seine schlafende Frau in „Signale aus dem Traum“, blickt von außen durch die Brille des eigenen Ichs.

Wie Radikalität entsteht? Schlag nach bei Lenz! Und Du wirst sehen, welche gesell­schafts­politischen Grundmuster es braucht, um „legitime Normen und Gesetze“ – ja die eigent­liche Nachkriegs­verfassung – über die diskursiven Kipppunkte des frei­heitlich-demo­kratischen Selbst­ver­ständnisses hinaus in eine weitere historische Dystopie von Faktizität und Geltung zu manövrieren.

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Dringende Durchsage

Erzählungen

Von Siegfried Lenz

25,00 Euro

  • Bibliografisches: Herausgegeben und mit einem Vorwort von Maren Ermisch, geprägtes Leinen, Farbschnitt, Lesebändchen, 192 Seiten, Einband­gestaltung von Cosima Schneider
  • Erscheinungsdatum: 07.10.2024
  • ISBN: 978-3455018233
  • Link: Büchergilde Gutenberg

Buch No.4

Die Schule der Trunkenheit“ – Rausch, Ruhm und Historie: Eine Kultur­geschichte rund um Brandy, Wodka, Whisky, Rum, Gin, Tequila und Champagner:

Die drei Chefinnen der Berliner Viktoria Bar mixen rare Anekdoten und Essays mit hoch­prozen­tigen Korrelaten zu einem beinahe opak funkelnden Kunstwerk, das jeglich erweiterter bzw. kon­tex­tueller Shots nicht bedarf, denn hier werden die Musen und Einhörner wach, die Elfen, Gespie­linnen des Glücks, Nixen in nassem Gewande.

Kerstin Ehmer, Beate Hindermann und Ellen Wagner stecken hinter dem Projekt.

Der Kommunikations­wissenschaftler, Autor und Filme­macher Pepe Danquart (1993 Winner Melbourne Inter­national Film Festival, 1994 Academy Awars of Merit für den Kurzfilm „Schwarzfahrer – Urban Legend“), hat die Antritts­vorlesung für die drei übernommen, der nicht minder berühmte Kunst­kritiker Peter Richter die Schluss­vorlesung. Beide Koryphäen sind selbst­verständlich Stammkunden!

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Die Schule der Trunkenheit

Von Kerstin Ehmer und Beate Hindermann

26,00 Euro

  • Bibliografisches: Durchgehend illu­striert einschl. Cover von Ellen Wagner, fester Einband, 296 Seiten
  • Erscheinungsdatum: 2023
  • ISBN: 978-3763275014
  • Link: Büchergilde Gutenberg

Alle vier Bücher sind zu entdecken in der Buchhandlung am Obstmarkt sowie im Internet.

Cover-Ausrisse:
– Quelle: Seiten der angegebenen Verlage
– Gestaltung, soweit bekannt: siehe „Bibliografisches“
– Bearbeitung: DAZ